Wir sehen auf unseren Wanderungen in den Westalpen so viele Steinböcke, dass wir zunächst der Nachricht „Ältester freilebender Steinbock der Alpen gestorben“ keine weitere Bedeutung beimaßen. Aber wenn ‚Repubblica‘, ‚La Stampa‘ und viele weitere Tageszeitungen darüber berichten, wollen auch wir nicht zurückstehen.
Das Wichtigste also zuerst:
‚Lillo‘, der wohl bekannteste Steinbock des Gran Paradiso Nationalparks, ist Ende Oktober in der Nähe von Les Toules/ Valsavarenche eines natürlichen Todes gestorben. Im Alter von 21 Jahren und 4 Monaten, um ganz präzise zu sein.
für Nachwuchs ist gesorgt
Dass Alpensteinböcke heute wieder aus Altersgründen das Zeitliche segnen, ist nur der Einrichtung von Schutzgebieten zu verdanken. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie als Fleischlieferant und wegen ihrer Bedeutung in der Volksmedizin (Steinbockblut gegen Blasensteine, sein Kot gegen Schwindsucht, die Bezoarsteine – Kugeln aus Haaren, Harzen und Steinen im Magen – als Hilfe gegen Krebs, etc. etc.) schonungslos gejagt und fast vollständig ausgerottet worden. Nur im Gebiet des Gran Paradiso hatte eine kleine Restpopulation – man spricht von circa 100 Tieren – überleben können. Grund genug für den späteren italienischen König Viktor Emanuell II. 1856 dort eines seiner vielen Jagdreviere einrichten zu lassen. Jagdhüter unterbanden fortan unerlaubten Abschuss, damit die königlichen Jagdgesellschaften stets genügend Exemplare der seltenen Beute vor die Flinte bekamen. Ein streng gehütetes Monopol, obwohl sich die Anzahl der Tiere längst vermehrt hatte: als der Schweizer Bundesrat anläßlich der Eröffnung des Simplontunnels 1906 die Absicht äußerte, einige Steinböcke zu Zuchtzwecken erwerben zu wollen, wurde das abgelehnt. Die Schweizer, so heißt es, wußten sich zu helfen und ließen das Geschäft kurzerhand durch Schmuggler abwickeln.
Im Jahr 1919 überschrieb König Viktor Emanuell III. dem italienischen Staat 2100 Hektar seines Jagdrevieres am Gran Paradiso zur Gründung des ersten Nationalparks Italiens (1922). Vorher ließ er jedoch noch Steinböcke in andere Jagdreviere transferieren, was zu einer sukzessiven Ausbreitung der Populationen entlang des Westalpenbogens führte. Heute wird die Zahl der Steinböcke alpenweit auf 30.000 – 40.000 geschätzt, wobei der Schwerpunkt der Verbreitung nachwievor in den Westalpen liegt.
Und da im Gran Paradiso Nationalpark nicht gejagt werden darf und seit Mitte der 1960er Jahre auf eine natürliche Regulierung der Population gesetzt wird (also auch keine Abschussgenehmigungen erteilt werden wie etwa in der Schweiz), dürfte Lillo, wie die Kinder der Grundschule von Dègioz/ Valsavarenche den Steinbock getauft hatten, ein recht beschauliches Leben geführt haben. Seit 1999 wurden seine Streifzüge mittels Sender-Halsband überwacht, eine Maßnahme, die jedoch bei Einbruch der Kälteperiode relativ überflüssig wurde: dann nämlich soll sich Lillo am liebsten auf dem Dach der Bäckerei von Les Toules aufgehalten haben. Eine Entscheidung, die erklären könnte, wieso er das Durchschnittsalter von Steinböcken, das bei 10 bis 14 Jahren liegt, doch erheblich überschreiten konnte.
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit