Weil in Tende alles, was der Durchreisende sucht, direkt an der Nationalstraße zu finden ist, werden die nettesten (und spannendsten) Winkel des kleinen Ortes im Royatal in aller Regel schlicht übersehen.
Während andernorts gerade erfindungsreiche Marketingstrategen ‚Trekking Urbano‘ (auf deutsch: Stadtwandern) als neuen Megatrend auserkoren haben, gibt es in Tende nur das alte Plakat, das am Ortseingang aufzeigt, was durchfahrende Touristen hier zum Anhalten veranlassen soll:
„Tende vous propose son Musée des Merveilles – son Parc Nautique – sa Via Ferrata“. Wir wären enttäuscht, wenn es dieses Plakat eines Tages nicht mehr gäbe. Und sind dennoch davon überzeugt, dass der Ort, der der Reihe nach provenzialisch, savoyisch, französisch und italienisch war und nun seit 1947 wieder französisch ist, sehr viel mehr zu bieten hat, als das Plakat verspricht. Deshalb hier ein Vorschlag für einem kleinen Stadtspaziergang durch die historische Altstadt – die so interessant ist, dass sie ganz ohne Neologismen auskommt.
Von der zentralen ‚Avenue du 17. Septembre 1947‘ beginnt gleich bei Hotel und Bar ‚Centre‘ an der Place de la République der mittelalterliche Ortskern. Die Rue de France, früher Teil der alten Salzstraße, führt über Kopfsteinpflaster zur Porte de Lombarde, dem nördlichen Stadttor. 1776 passierten Tende täglich ca. 150 Maultiere, was eine Einbahnstraßenregelung nötig machte, um die engen Gässchen nicht vollends zu verstopfen – weshalb für die Gegenrichtung eine neue Straße auf der Trasse der heutigen Route National um die Stadt herum angelegt wurde. Gleich hinter dem Tor steht die Chapelle de L’Annonciade der Laienbruderschaft der weißen Büßer, der Confrèrie des Penitents Blancs, die als Wachhäuschen entstanden sein soll. Ihre Fresken entdeckte man erst durch Zufall bei Renovierungsarbeiten im Jahr 1998. Sie stammen aus dem 15. Jahrhundert und werden Giovanni Baleison zugeschrieben, einem der beiden Priestermaler, die der kleinen Kapelle Notre-Dame des Fontaines im Nachbarort La Brigue zum Beinamen ‚Sixtinische Kapelle der Seealpen‘ verholfen haben. Zu besichtigen ist die Kapelle, wie die beiden weiteren der Bruderschaften, jedoch nur in den Monaten Juli und August, samstags und sonntags zwischen 15 und 18 Uhr.
Während rechts nacheinander viele kleine Aufgänge zum Château de Lascaris hinaufführen, finden sich linker Hand immer wieder kleine Plätze, meist mit Brunnen, aber immer mit dreidimensionaler Illusionsmalerei, Trompe d’oeil-Bildern. Kurz hinter der Funtana dar Tràou befand sich Ende des 19. Jahrhunderts in Hausnummer 145 die protestantische Chiesa Christiana Evangelica, an deren Portal die Devise der Waldenser „Lux lucet in tenebris“ („Ein Licht leuchtet in der Dunkelheit“) nur noch verschwommen zu erkennen ist. Am Ende der Rue de France führt eine Brücke über den Vallon du Riu und halblinks weitergehend erreicht man an der Place de L’Église das religiöse Zentrum des Ortes: hier stehen in unmittelbarer Nachbarschaft Notre-Dame de L’Assomption, deren Renaissanceportal ein Türsturz aus grünem Schiefer
schmückt, auf dem die zwölf Apostel neben Jesus Christi abgebildet sind, die Chapelle de L’Annonciation der Pénitents Blancs und die Chapelle de la Miséricorde der Pénitents Noirs. Die Rue Cotta führt weiter zum südlichen Stadttor, der Porte de Nice, durch die man den Ort verlassen könnte, aber nicht sollte.
Denn zum ‚vollen Programm‘ gehören die Ruinen des Chateau de Lascaris. Um sie zu erreichen, geht man wieder ein kleines Stück zurück und steigt von der Rue de France links den Montée du Cimetière hinauf. Die Familie Lascaris stellte die Grafen von Tende und Ventimiglia, und für sie wurde das Schloss im 14./ 15. Jahrhundert erbaut, von dem heute lediglich ein circa 20 Meter
hoher Mauerrest und einer der drei Rundtürme geblieben ist. Alles andere wurde 1692 durch Truppen Ludwig des XIV. zerstört. Auf den verbliebenen Rundturm wurde im 19. Jh. ein Uhrtürmchen gesetzt, an dem nun stets die Fahne mit dem Wappen der Lascaris weht. Der wie ein mahnender Zeigefinger steil aufragende Mauerrest aber blieb unverändert – und nährt ungebrochen die Legende, dass genau hier Beatrice de Lascaris in der Nacht vom 13. auf den 14. September 1418 auf Anweisung ihres Ehemannes wegen vermeintlichen Ehebruches enthauptet wurde. Und manchmal nachts sogar noch ihr Stöhnen zu hören sei!
Wie gesagt: Legende. In Wirklichkeit (wenn man der Überlieferung denn glauben darf) starb die tragische Heldin des Ortes nicht in Tende sondern im Kastell von Binasco südlich von Mailand: Beatrice di Tenda, Tochter von Pierre Balbo II. de Lascaris, in erster Ehe verheiratet mit dem Söldnerführer Facino Cane, Comte de Biandrate, der ihr Vermögen bis zu seinem frühen Tod so geschickt vermehrte, dass Ehemann Nummer Zwei, Philippe-Marie Visconti, Herzog von Mailand, auf den Plan gerufen wurde. Um seine um vieles ältere Frau schon nach kurzer Ehe wieder loszuwerden, ihre Besitztümer aber behalten zu können, beschuldigte er sie kurzerhand des Ehebruchs. Ein unter Folter erzwungenes Geständnis des vermeintlichen Liebhabers genügte, um Beatrice im September 1418 enthaupten zu lassen. Dichter wie Tibaldi Fores Carlo und Marie Lafayette haben diese Legende genährt, welche als Vorlage für Vincenzo Bellinis 1833 in Venedig uraufgeführte Oper ‚Beatrice di Tenda‘ diente.
Nach so viel Legenden nun noch ein ganz praktischer Hinweis: Auf dem Gelände des zerstörten Château de Lascaris befindet sich ein wunderschön terrassenförmig angelegter Friedhof, der einen fantastischen Ausblick auf den Ort bietet.
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit