Das Tal ist ‚eng‘, so viel ist sicher (eng = italienisch: stretto/a, französisch: étroit/e). Aber gehört es nun zu Italien oder zu Frankreich?
Wer noch im Hinterkopf hat, was in der entsprechenden Wanderführerliteratur zu lesen ist, dass nämlich nach Ende des 2. Weltkrieges die Grenze zwischen den beiden Staaten genau auf die Wasserscheide des Alpenhauptkammes verlegt wurde, muss zu der Ansicht gelangen, das Tal gehöre zu Italien: Der Bach, der das enge Tal durchfließt, entwässert schließlich Richtung Poebene.
Roche di Serù, 2890m
Wer in die AsF-Karte schaut, findet dort keine Grenzlinie (da ist AsF ganz ‚grenzenlos europäisch‘), dafür aber ein Rifugio des Club Alpino Italiano (CAI) und ein Refuge, das zum Verbund der ‚Grande Traversée des Alpes‘ (GTA) gehört, also jener französischer Organisation, die den GR5 zwischen Genfer See und Mittelmeer touristisch entwickelte und die Institution der Gîte d’Étape schuf.
Beide Hütten sind telefonisch über die italienische Vorwahl zu erreichen, was besonders bei französischen Wanderern langanhaltende Irritation auslöst – die wir nachfolgend etwas auflösen wollen. Ein erstes Rifugio baute die Sektion Torino des CAI 1913 im Valle Stretta. Es brannte 1929 ab und wurde 1930 am heutigen Standort des ‚Rifugio Terzo Reggimento Alpini‘ wieder aufgebaut. Dort, wo schräg gegenüber bereits im September 1923 die ‚Unione Giovani Escursionisti Torinesi‘ (U.G.E.T.) anläßlich ihres 10-jährigen Bestehens ihr erstes eigenes Rifugio errichtet hatte. Die irritierende ‚Hüttendichte‘ im Tal erklärt sich also schlicht daraus, dass zwei unterschiedliche Organisationen (die erst 1931 miteinander verschmolzen) das Valle Stretta als hervorragenden Ausgangspunkt für ihre Exkursionen betrachteten. Natürlich auf italienischem Grund und Boden.
Die mit dem Friedensvertrag von 1947 vorgenommene Grenzziehung, die aus dem Valle Stretta offiziell das Vallée Etroite als französische Enklave jenseits des Alpenhauptkamms machte, ist nur unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und einer längst überkommenen konventionellen Kriegsführung zu verstehen: Der frühere Panzergeneral Charles de Gaulle setzte in den Friedensverhandlungen alles daran, einen erneuten Überfall durch die Italiener – die sich im Junikrieg 1940 am bereits am Boden liegenden Nachbarn Frankreich noch schnell territoral bereichern wollten – zu verhindern. Passregionen, über die ein verhältnismäßig einfacher Angriff möglich wäre, standen dabei besonders im Blickpunkt: So erklärt sich die seltsame Zickzack-Grenzziehung am Col de Tende, dass das Mont-Cenis-Plateau heute zu Frankreich gehört – und auch das Beharren auf einer etwas kurios anmutenden Grenzveränderung im Valle Stretta.
Denn dieses Tal, das heute zur französischen Gemeinde Névache gehört, war lange Zeit von Frankreich aus nur schwer erreichbar, und auch heute besteht eine Straßenverbindung zum ‚Mutterland‘ über den erst 1969 ausgebauten Col de l’Echelle (Colle della Scala) nur in den Sommermonaten! Aus dem italienischen Bardonecchia hingegen ist es innerhalb weniger Minuten zu erreichen. Strategische Vorsichtssichtsmaßnahmen wie diese, so albern sie uns heute auch erscheinen mögen, haben allerdings eine lange Tradition: auch Camillo Benso di Cavour, Ministerpräsident von Piemont-Sardinien, hatte 1860 das obere Royatal zur italienischen Enklave gemacht, um die Poebene vor einem Einfall der Franzosen zu schützen!
Flexibler als die Staatsraison erwiesen sich über die neue Grenze hinweg die nachbarschaftlichen Verhältnisse:
1950 gab die Gemeinde Névache den enteigneten italienischen Besitzern ihre Grundstücke zurück. Und die Sektion Briançon des Club Alpin Français (CAF), der das Rifugio Terzo Alpini zugefallen war, überließ die Hütte zum symbolischen Kaufpreis von einem französischen Franc 1970 wieder dem CAI Torino.
Über den beiden Hütten im Valle Stretta flattern heute neben der Europaflagge sowohl die französische als auch die italienische Trikolore. Und irgendwie ist es vollkommen egal, zu welchem Staat dies Territorium denn nun gehört. Nur als im Terzo Alpini kostenintensive Renovierungsmassnahmen anstanden, kam wieder zum Tragen, dass es sich um eine CAI-Hütte handelt, die im ‚Ausland‘ steht. Im Herbst 2006 hat der CAI sich von dieser Traditionshütte getrennt. Sie wird nun vom früheren Pächter privat betrieben – wie auch das Rifugio der UGET ‚I Re Magi‘ schon lange privat bewirtschaftet wird.
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit
Noch bis 24. August 2014 fahren wieder Shuttlebusse von Bardonecchia ins Valle Stretta.
Ab Bardonecchia, Viale Vittoria 1 (Hotel Betulla):
täglich 09.05, 10.20, 11.40, 14.50, 16.00, 17.20 Uhr
Ab Valle Stretta:
Täglich 09.40, 11.00, 12.20, 15.30; 16.40, 18.00 Uhr
Voranmeldung im Ufficio del Turismo, Piazza De Gasperi, ist notwendig; der Preis für die einfache Fahrt beträgt 2,50 Euro.