Nicht jeder der Jagdsteige, die König Vittorio Emanuele II. von Italien ab 1861 in seinen Jagddistrikten rund um den Gran Paradiso (4.061 m) erbauen ließ, ist so kunstvoll gepflastert – alpiner Straßenbau vom Feinsten! – wie jener, der vom Rifugio Città di Chivasso am Colle del Nivolet hinüber ins Valle Orco führt. Dennoch hat man bei Wanderungen in der Gran-Paradiso-Region meist einen der Wege unter den Füßen, die zwischen 1861 und 1878 angelegt wurden, damit der König und seine adligen Gäste ohne vom Pferd zu steigen hochgelegene Jagdsitze erreichen oder Pässe überwinden konnten.
aus: Von Königen und Wilderern. Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Marco Giacometti
Wir treffen in den Westalpen zwischen Aostatal und Ligurischen Alpen permanent auf Hinterlassenschaften des Monarchen (von 1849 bis 1861 des Königreichs Piemont-Sardinien, danach erster König des vereinten Italiens). Jedoch nicht denen des Staatsmannes (Vielleicht stimmt ja der Gossip, nachdem sein Ministerpräsident Camillo Benso di Cavour den König und dessen unstandesgemäße Geliebte Rosa Vercellana ohnehin nur ungern in der Hauptstadt Turin sah?), sondern denen des leidenschaftlichen Jägers Vittorio Emanuele II., des „Re Cacciatore“.
Il Re Cacciatore
Anfang des 19. Jahrhunderts waren Steinböcke fast ganz aus den Alpen verschwunden. Sie waren als Fleischlieferant und wegen ihrer Bedeutung in der Volksmedizin (Steinbockblut gegen Blasensteine, sein Kot gegen Schwindsucht, die Bezoarsteine – Kugeln aus Haaren, Harzen und Steinen im Magen – als Hilfe gegen Krebs, etc. etc.) schonungslos gejagt und fast vollständig ausgerottet worden. Nur im italienischen Gran-Paradiso-Gebiet hatte eine kleine Restpopulation die flächendeckenden Bejagungen überlebt. Man spricht von ca. 100 Tieren. Per Gesetz wurde deshalb 1821 der Steinbock im gesamten Gebiet Savoyens unter Schutz gestellt. Was zwar ein Meilenstein in der Geschichte des europäischen Naturschutzes gewesen sein mag, den Bestand wegen fehlender Überwachungsmöglichkeiten aber wohl nicht hätte sichern können. Auch wer wie wir der Jagd nichts abgewinnen kann (ein Besuch im Schloss von Sarre, wo
mit freundlicher Genehmigung: Zoologisches Museum der Universität Zürich
Ornamente aus 1019 Steinbock- und 787 Gamshörnern Decken und Wände des großen Saals fast vollständig bedecken, hinterlässt einen bizarren Eindruck), kommt nicht umhin zu konstatieren, dass die Rettung der Population nur durch die Einrichtung von königlichen Jagdrevieren, die damit verbundene Hege und strenge Limitierung von Abschüssen gelingen konnte.
Ab 1856 erwarb Vittorio Emanuele II. Grundstücke im Gran-Paradiso-Gebiet, zunächst am Colle del Nivolet, dann im Valsavarenche, im Val di Cogne, im Val di Rhêmes, im Val di Champorcher und in den (heute) piemontesischen Tälern von Orco und Soana. In all diesen Gebieten wurden Jagdhäuser errichtet, und der Ausbau des alle Jagdgebiete miteinander verbindenden Wegenetzes begann 1861. Insgesamt 340 Kilometer Jagdwege bis auf eine Höhe von 3.296 m (Col Lauson, auch: Col Loson), alle zwischen 1 m und 2,5 m breit und für Pferde zu bewältigen, wurden angelegt. Deren Bau und Unterhalt – wie auch der Ankauf/ die Pacht für die Jagdgebiete aus Privatvermögen gezahlt – soll den König ein Vermögen gekostet haben.
Wer Einzelheiten darüber erfahren möchte, findet sie und viele interessante Hinterrundgeschichten im 2006 erschienenen Buch (Hrsg. Marco Giacometti) „Von Königen und Wilderern“ im Kapitel ‚Königliche Jagden im Gran Paradiso‘, das Pietro Passerin d’Entrèves, Professor für Zoologie an der Universität Turin und Rektor der Universität des Aostatales, verfasst hat.
Wandern auf ehemals königlichen Jagdsteigen
Wurden die ersten Jagden noch im – vom Eingang des Aostatals am schnellsten erreichbaren – Val di Champorcher abgehalten, verlagerte sich deren Zentrum immer mehr ins Valsavarenche. Kein Wunder also, dass die heute klassische Aufstiegsroute zur Besteigung des Gran Paradiso nicht nur über einen ehemaligen Jagdsteig führt, sondern das Rifugio unterhalb seines Gipfels auch nach Vittorio Emanuele II. benannt ist. Genau wie das alte Rifugio direkt daneben, die frühere Casa Reale di Caccia di Montcorvé.
Zu Jagdzwecken angelegte Infrastruktur nutzt im 21. Jahrhundert auch, wer von Pont aus, dem letzten mit dem Auto anfahrbaren Ort im Valsavarenche, hinauf zur Nivolet-Hochebene geht. Dort im Herzen des 1922 gegründeten Nationalparks – dem Enkel des Jägerkönigs war die Anfahrt von Rom aus zu weit und er überschrieb das Jagdrevier dem Staat – wird das ehemalige Jagdhaus seit 1921 als Rifugio Savoia betrieben. Eine andere Casa di Caccia im Valsavarenche steht in Orvieille, heute von den Parkwächtern genutzt. Eine Mulattiera Reale führt von Dégioz durch den Bois de Fontaines zu dem 1862 errichteten Jagdhaus.
Auf der anderen Talseite kann man vom Valsavarenche ins Val di Cogne überwechseln. Die in den wohl bekanntesten Höhenweg des Aostatals, die Alta Via 2, eingebundene Strecke führt über ehemalige Reitwege, den Col Lauson nutzend, geradewegs zur nächsten ehemaligen Casa di Caccia, die heute das nach dem großen Alpinfotografen Vittorio Sella benannte Rifugio beheimatet. Usw.usw. usw.
Wir belassen es an dieser Stelle bei diesen wenigen Hinweisen zu attraktiven Wandertouren im Gran-Paradiso-Gebiet, werden aber nach und nach die eine und die andere über königliche Reitwege verlaufende Route detailliert beschreiben.
Randnotiz: Auch zu Lebzeiten von Vittorio Emanuele II. waren diese Wege allen frei zugänglich. Gesperrt waren sie lediglich zur Jagdzeit. Und der König soll es gern gesehen haben, dass Alpinsten sie als Anmarschrouten für ihre Bergtouren nutzten.
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit