„In einem vereinten Europa sollten derartige Jahrestage heute keine Rolle mehr spielen“, schrieben wir vor 10 Jahren in unserem Artikel zum 60. Jahrestag des ‚Rattachments‘, der Abtretung des oberen Royatals an Frankreich am 17. September 1947.
Und dennoch mutete es nun etwas merkwürdig an, als es im Jahr 2017 wirklich (fast) keine Rolle mehr spielte.
Keine großen Plakate, kein symbolisches Hissen der Trikolore, kein Fest aus Anlass des Jahrestages: Im kleinen Städtchen Tende wies lediglich ein handgeschriebenes Schild auf die Eröffnung einer Ausstellung mit über 500 Exponaten, die der Lokalhistoriker Armand Oliviero über die Jahrzehnte zum Rattachment gesammelt hat. Diese einzigartige Sammlung mit allen Dokumenten und Fotografien steht nun zum Verkauf. Auch das in Breil-sur-Roya herausgegebene Journal „Le Haut Pays“, stets reich bebildert mit historischen Aufnahmen aus der Collection Armand Olivero, erscheint nur noch sporadisch. Das Interesse an diesem Stück Geschichte scheint versiegt.
Trotzdem nehmen wir dieses Thema hier nochmals auf, denn: Hätten wir bei unseren ersten Wanderungen in dieser Gegend bereits gewusst, was es bedeutete, dass das Gebiet noch so lange zu Italien gehört hat und wie heiß umkämpft es noch war, als in Paris bereits seit 8 Monaten Frieden herrschte, hätten uns manche Phänomene entlang unserer Wege weniger Rätsel aufgegeben.
Wie das obere Royatal französisch wurde
1860 trat das Königreich Piemont-Sardinien Savoyen und damit auch die Grafschaft Nizza an Frankreich ab, um sich für dessen Unterstützung bei der Einigung Italiens zu revanchieren. Zu diesem Gebiet hätte auch das obere Royatal gehört, wurde aber, um die Poebene strategisch absichern zu können, bei dieser Abtretung ausgeklammert. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Bevölkerung, die sich bei dem vorausgegangenen Plebiszit – ein Instrument, das damals den royalen Machtpoker legitimieren sollte – mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zu Frankreich aussprach, um nicht in eine vollkommen isolierte Lage zu geraten. Das Abstimmungsergebnis wurde allerdings ignoriert, die Grenze mitten durch das Tal gezogen, Familien auseinandergerissen und traditionelle Weidegebiete zerschnitten. Das obere Royatal (wie auch schmale Gebietsstreifen um die Pässe Fenestre, Cerise, Fremamorta und Lombarde) blieben bei Italien.
Nachkommen der Familien, die damals als Reaktion auf die neue Grenzziehung ihre Heimat verließen und nach Frankreich umsiedelten – was ja im konkreten Fall manchmal nur Fontan, Saorge oder Breil hieß – bildeten später ein starkes Sammelbecken für die Idee der Angliederung des Tales an Frankreich. Dass sich nach der Absetzung Napoleon III. die Situation zwischen Italien und Frankreich zunehmend verschärfte, dass die Grenze zu den ‚Feinden‘ im Süden mit den Forts am Col de Tende gesichert und damit ein Klima erzeugt wurde, das den Gefühlen der Bevölkerung so gar nicht entsprach, machte die Sache nicht besser. Dafür wurde mit der Eröffnung des Tendetunnels (1882) und der Eisenbahnlinie (1913) die geografische Isolation vom Mutterland verringert.
Da Frankreich und Italien im 1. Weltkrieg auf gleicher Seite kämpften, blieb die Region von Kampfhandlungen verschont, und auch danach gab es durchaus Phasen, in denen mit Sonderregelungen der kleine Grenzverkehr erleichtert wurde. Was sich änderte, als Mussolini vor dem zweiten Weltkrieg das obere Royatal mit weiteren Festungsanlagen an strategisch wichtigen Punkten überzog und zu deren Versorgung ein gigantisches Militärstraßensystem baute. Die Pläne sahen unter anderem vor, die Pisten im Val Valmasque und Val d’Enfer – mitten durch das Vallée des Merveilles – miteinander zu verbinden.

es lebe das französische Tende – Avenue Georges Bidault -Foto: © Wolfram Mikuteit, Aufnahme vom September 2017
Als Mussolini Frankreich im Juni 1940 überfiel, wurden Heerscharen von Saisonarbeitern, die Sommer für Sommer an der Côte d’Azur in Hotels und Gaststätten arbeiteten, von der Schließung der Grenzen überrascht und durften nicht mehr heimkehren. Genauso erging es den Schäfern, die sich mit ihren Herden wie gewohnt auf den französischen Weiden befanden, als der Krieg ausbrach.

Forderung nach Rückgabe an Frankreich der seit 1860 italienischen Gebiete – Kollektion Armand Oliviero
Hitlers Angriffskrieg gegen die UdSSR, zu dessen Unterstützung Mussolini Hunderttausende schickte, die den Sinn dieses Krieges weder verstanden noch mittrugen, die Besetzung des Royatales durch die Deutsche Wehrmacht, die erbarmungslose Jagd auf Partisanen (zu denen viele jener Soldaten überliefen, die noch vor dem Einmarsch der Deutschen desertieren konnten), Deportationen und Repressalien gegen die Zivilbevölkerung, immer unterstützt von italienischen Einheiten, lieferten der Bewegung neuen Zulauf. 1943 wurde das ‚comité d’action en vue du rattachment du Tende et La Brigue à la France‘ gegründet.
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Tales machte auch vor den Reihen der Partisanen nicht halt. ‚In die Berge‘ gegangen waren die Männer, um Zwangsrekrutierung oder Deportationen zu entgehen. Der antifaschistische Widerstand vereinigte sie – aber zu Spannungen kam es dort, wo divergierende Ziele für die Nachkriegszeit aufeinanderstießen: die auf nationalen italienischen Befreiungskampf ausgerichtete Partisanenbewegung brachte den ‚separatistischen‘ Bestrebungen der Menschen aus dem oberen Royatal wenig Begeisterung entgegen. Eine Eskalation der Auseinandersetzungen konnte nur wegen der Abhängigkeit von der Unterstützung der ‚Gaullisten‘ und Alliierten verhindert werden.
Zwei Tage nach der Befreiung durch französische Truppen am 26. April 1945 brachte ein Konvoi 320 Bewohner aus ihrem Zwangsexil an der Küste in ihre Heimatgemeinden zurück. Und bereits einen Tag später organisierte das Komitée für das Rattachment eine Befragung der Bevölkerung, in der sich 1869 Personen für die Angliederung an Frankreich aussprachen.

Vive La Republique Française – Tende – Avenue Georges Bidault N° 62 – Foto: © Wolfram Mikuteit, Aufnahme vom September 2017
Zunächst aber mussten auf Druck der Alliierten die französischen Einheiten am 10. Juli 1945 das Gebiet wieder verlassen – und erneut besetzten Italiener Administration und Schlüsselpositionen zur Aufrechterhaltung von ‚Recht und Ordnung‘.
Auf Drängen von Bevölkerung und französischer Regierung installierten die Alliierten im Mai 1946 eine Untersuchungskommission, die das politische Klima ausloten sollte. Als Ergebnis der Kommissionsarbeit wurde die Möglichkeit der Gebietsabtretung erstmals offziell festgeschrieben – jedoch nur unter der Bedingung, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung dafür ausspräche.
Damit war die Grundlage für das Rattachment gelegt, niemand zweifelte am positiven Votum. Im Friedensvertrag zwischen Frankreich und Italien, am 10. Februar 1947 in Paris unterzeichnet, wurden die Grenzen neu festgelegt. Neben den vier Orten im Royatal (Tende und La Brigue im Norden, Libre und Piena im Süden) fielen auch die Passgebiete an Frankreich, die bei der Abtretung Savoyens 1860 ausgespart worden waren. Als offizieller Termin wurde der 17. September 1947 angesetzt – die Tricolore wurde bereits einen Tag vorher gehisst.
Das Plebiszit, das diese Grenzziehung endgültig legitimierte, fand am 12. Oktober 1947 statt.
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit
Lieber Herr Lotter,
Ich habe im Text nach der Stelle gesucht, auf die Sie Bezug nehmen und fand folgenden Passus: „Zunächst aber mussten auf Druck der Alliierten die französischen Einheiten am 10. Juli 1945 das Gebiet wieder verlassen – und erneut besetzten Italiener Administration und Schlüsselpositionen zur Aufrechterhaltung von ‚Recht und Ordnung‘.“
„Besetzten“ also im Sinne von „nahmen diese Positionen ein“ – nicht im Sinne von „Besatzung“.
Unbestritten wurde die Wiedereinsetzung der alten, unter Mussolinis faschistischer RSI-Administration aufgestiegenen Funktionsträger von der ganz überwiegenden Mehrheit der Talbevölkerung aber als unrechtmäßige „Besetzung“ interpretiert.
Sabine Bade
Von einer italienischen Besetzung dieser Gebiete kann man aber, entgegen dem Wortlaut dieses Beitrags, nicht wirklich sprechen. Denn bis 1860 war die komplette Grafschaft Nizza italienisch und dieser kleine Teil davon blieb eben auch danach italienisch. Hier entsteht der Eindruck Italien hätte sich diesen Landstrich widerrechtlich von Frankreich einverleibt.