Clarence Bicknell und die Gravuren des Vallée des Merveilles

Man sollte annehmen, dass Clarence Bicknells herausragende Stellung bei der Erforschung der Gravuren im Vallée des Merveilles von örtlichen und regionalen Touristikern, durchaus auch von der Verwaltung des Parc National du Mercantour, werbewirksam hervorgestrichen würde.
Clarence Bicknell - Aufnahme aus dem Jahr 1906 Aufnahme von 1906

Denn schließlich war er es, der die bronzezeitlichen Piktogramme, die heute als zweitgrößte Fundstelle prähistorischer Gravuren im gesamten Alpenraum gilt, entmystifizierte und sie einer internationalen Öffentlichkeit bekannt machte. Aber weit gefehlt! Dass Clarence Bicknell (1842-1918) über 20 Jahre lang in Casterino lebte, ist vor Ort nicht erkennbar. Wer mehr über diesen hochinteressanten Mann erfahren möchte, ist gezwungen, bis ins italienische Bordighera zu fahren.
Vom Besuch des dortigen Museums (*) wollen wir zwar niemanden abhalten, liefern hier aber ein paar biografische Informationen vorab.
Casa Fontanalba - Aufnahme um 1910 Aufnahme um 1910

Was durchaus den einen oder anderen Leser dazu ermutigen soll, im Besucherzentrum von Casterino einmal nachzufragen, warum in Bicknells ehemaligen Wohnhaus, der Casa Fontanalba, nicht schon längst ein öffentlich zugängliches Museum eingerichtet wurde!

From Whale-Oil to Oil-Paintings of Whales: The Bicknell Family
Dies Wortspiel stammt von Bicknells Biografen Christopher Chippendale, der beim Kapitel über die  Bicknellsche Familiengeschichte dergestalt titelte. Weil Clarence Bicknell in London in eine großbürgerliche hineingeboren wurde, die ihr Vermögen mit dem Handel des damals unter anderem für die Straßenbeleuchtung stark nachgefragten Walfischtrans erworben hatte. Und sich danach dem Sammeln von zeitgenössischer Malerei widmete und ein von Künstlern gern besuchtes Haus führte.
Sein Onkel H. K. Browne war der Illustrator von Charles Dickens, und J. M. W.Turner, der wie viele andere Maler oft im Haus der Bicknells zu Gast war, soll für “Whalers” von Bicknell senior inspiriert worden sein.
Genug der Wortspielerei – mit dem Tod von Bicknells Vater wurden die intellektuellen Zirkel ohnehin aufgelöst. Clarence ging nach Cambridge und studierte am Trinity College Mathematik. Die Universität war es auch, an der Bicknell ersten Kontakt zu kirchlichen Gruppen bekam. Sofort nach dem Examen empfing er die Priesterweihe und begann seine Arbeit als Vikar der anglikanischen Kirche. Nach zehn Jahren Arbeit in den Slums in Randbezirken von London – und damit verbundenen stetig wachsenden Zweifeln am Glauben – begab er sich zunächst auf Reisen nach Ceylon, Neuseeland und Marokko. 1878 nahm er dann eine Stelle als Kaplan der englischen Kolonie in Bordighera an der italiensichen Riviera an.

Auf der Suche nach der Saxifraga Florulenta
Engländer seiner Zeit (und Schicht) gründeten nicht nur den ersten Alpenverein, sondern kamen auch an die Riviera, um entweder das in Romanen beschriebene dolce farniente der Italiener zu erleben oder um ihre damals grassierende Tuberkulose zu kurieren. Die englische Kolonie Bordigheras zählte zu Bicknells Zeit 5.000 von damals insgesamt 7.000 Einwohnern, groß genug also um einen eigenen englischen Kaplan zu beschäftigen.
Aber auch der Ortswechsel konnte Bicknells grundlegenden Zweifel nicht mildern: Zu ritualisiert, zu dogmatisch, zu chauvinistisch erschien ihm die Kirchenarbeit. Nach nur einem Jahr gab er nicht nur diese Stellung sondern seine Arbeit als Kaplan endgültig auf.
Sein ererbtes Vermögen gab ihm die Unabhängigkeit, sich ausschließlich Dingen zu widmen, die ihn faszinierten und die ihm wichtig erschienen. Der Pazifist Bicknell lernte die eben entwickelte Welthilfssprache Esperanto. Als Wissenschaftler verschrieb er sich dem Botanisieren: Sammelte Pflanzen, malte sie in Wasserfarben, beschrieb sie akribisch und verfasste Bücher über die Flora Liguriens.
Saxifraga Florulenta Foto: Christophe Franco  wikipedia/cc-by-sa

Die Suche nach einer seltenen Pflanze, der Saxifraga Florulenta, war es auch, die ihn 1881 erstmals ins Mont-Bégo-Massiv brachte.
Es war damals zwar bekannt, dass es in dieser Gegend Felsgravuren geben sollte, aber sie waren nicht erforscht – sondern lediglich ein Teil der vielen Mythen, die sich um dieses Bergmassiv rangten. “Magisch” oder “heilig” sollte die Monte-Bégo-Region sein, was die meisten abschreckte, sich dem zu nähern.

Die Wiederentdeckung des Vallée des Merveilles
Erstmals beschrieben wurden die Gravuren von Onorato Lorenzo, dem Pfarrer von Belvédère, der die Felszeichnungen in seiner Schrift „Les Meraviglie“ auf griechische Mythologien zurückführte. Aus diesem Werk zitierte bereits 1650 der Historiker Pietro Gioffredo aus Nizza, dem die Entdeckung deshalb selbst oft zugeschrieben wurde.
Bei seinem ersten Tagesausflug ins Vallée des Merveilles – von St. Dalmas de Tende war dafür zu Fuß eine Strecke von über 20 km und 1400 Höhenmetern zu bewältigen – im Juni 1881 konnte Bicknell wegen Schnee nur wenig erkennen. Bei seinem zweiten Anlauf 1885 skizzierte er bereits über 50 verschiedene Figuren und Symbole, die in von eiszeitlichen Gletschern sehr glatt geschliffene Felsen gehauen oder gemeißelt waren.
Gravur im Vallée des Merveilles, Fontanalba Durch den italienischen Alpenverein erfuhr er von Felsgravuren auch im Val Fontanalba. Er mietete sich 1897 im Val Casterino ein Haus und begann, die Gravuren genauso akribisch zu erforschen wie vorher die Pflanzen. Zusammen mit seinem Diener, Gefährten und Freund Luigi Pollini machte er Skizzen von anfangs über 400 Gravuren. Mit dem Resultat nicht zufrieden, ließ er sich aus Tende große Papierblätter beschaffen und pauste die Gravuren ab. Seine durch das Botanisieren festgelegte Arbeitsweise übertrug er auf die Erforschung der Gravuren: Suchen und finden, auflisten und beschreiben und danach klassifizieren. Er sandte Zeichnungen, später auch Fotografien und herabgefallene Teile ans Britische Museum in London und schrieb 1902 “A Guide to the Prehistoric Rock Engravings in the Italian Martitime Alps”, womit er professionellen Archäologen die Grundlage für ihre spätere Arbeit bot.
Bis zu seinem Tod 1918 hatte er über 12.000 Gravuren, auch am Lago del Basto und Col di Sabbione, identifiziert, dokumentiert und sie in 7 Kategorien unterteilt: 1. Figuren mit Hörnern 2. Pflüge 3. Waffen und Werkzeuge 4. Menschen 5. Hütten 6. Geometrische Formen und 7. weitere undefinierbare Figuren.
Zum Teil tragen die Gravuren noch heute die Namen, die Bicknell oder Pollini ihnen bei der Entdeckung spontan gaben. So zum Beispiel “Le Chef du Tribu”, den sie 1909 entdeckten. Aber obwohl Bicknell oft mit seinen ersten Assoziationen sehr nah an die Ergebnisse späterer Forschungen heranreichte, sah er es nicht als seine Aufgabe an, die Bedeutung der Gravuren zu interpretieren: “We are only the collectors of facts, and must leave to others the task of studying them more profoundly.”

Heute erinnert (außer einer recht unspektakulären Tafel am Parkplatz des Lac de Mesches) in Casterino selbst nichts mehr an Clarence Bicknell.
Casa Fontanalba - Aufnahme aus dem Jahr 2003 Aufnahme von 2003

Und das Haus, das er 1905 in Casterino erbauen ließ und dessen Wände er selbst mit Pflanzen, kurzen Esperantogedichten und Nachbildungen gefundener Gravuren bemalt hat, seine “Casa Fontanalba”, ist leider in Privatbesitz und damit für die  Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

(*) Das Bicknell Museum in Bordighera ist dem Istituto Internationale di Studi Liguri angegliedert:
18012 Bordighera, Via Romana 39/ Ecke Via Bicknell,
Tel. +39 01 84 26 36 01, http://www.iisl.it/,
geöffnet Mo/Mi/Do/Fr 9.30-13.00 / 13.30-16.45

Zum Weiterlesen:
Die Erforschung der Piktogramme ist noch längst nicht abgeschlossen – wenn das denn jemals möglich sein wird:
Die Entdeckung des prähistorischen Sonnenkalenders im Vallée des Merveilles

 

 

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Mercantour, Royatal, Seealpen

Hinterlasse einen Kommentar