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Das obere Roytal – seit 70 Jahren französisch

„In einem vereinten Europa sollten derartige Jahrestage heute keine Rolle mehr spielen“, schrieben wir vor 10 Jahren in unserem Artikel zum 60. Jahrestag des ‚Rattachments‘, der  Abtretung des oberen Royatals an Frankreich am 17. September 1947.

Und dennoch mutete es nun etwas merkwürdig an, als es im Jahr 2017 wirklich (fast) keine Rolle mehr spielte.

Keine großen Plakate, kein symbolisches Hissen der Trikolore, kein Fest aus Anlass des Jahrestages: Im kleinen Städtchen Tende wies lediglich ein handgeschriebenes Schild auf die Eröffnung einer Ausstellung mit über 500 Exponaten, die der Lokalhistoriker Armand Oliviero über die Jahrzehnte zum Rattachment gesammelt hat. Diese einzigartige Sammlung mit allen Dokumenten und Fotografien steht nun zum Verkauf. Auch das in Breil-sur-Roya herausgegebene Journal „Le Haut Pays“, stets reich bebildert mit historischen Aufnahmen aus der Collection Armand Olivero, erscheint nur noch sporadisch. Das Interesse an diesem Stück Geschichte scheint versiegt.

Trotzdem nehmen wir dieses Thema hier nochmals auf, denn: Hätten wir bei unseren ersten Wanderungen in dieser Gegend bereits gewusst, was es bedeutete, dass das Gebiet noch so lange zu Italien gehört hat und wie heiß umkämpft es noch war, als in Paris bereits seit 8 Monaten Frieden herrschte, hätten uns manche Phänomene entlang unserer Wege weniger Rätsel aufgegeben.

 

Wie das obere Royatal französisch wurde

1860 trat das Königreich Piemont-Sardinien Savoyen und damit auch die Grafschaft Nizza an Frankreich ab, um sich für dessen Unterstützung bei der Einigung Italiens zu revanchieren. Zu diesem Gebiet hätte auch das obere Royatal gehört, wurde aber, um die Poebene strategisch absichern zu können, bei dieser Abtretung ausgeklammert. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Bevölkerung, die sich bei dem vorausgegangenen Plebiszit – ein Instrument, das damals den royalen Machtpoker legitimieren sollte – mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zu Frankreich aussprach, um nicht in eine vollkommen isolierte Lage zu geraten.  Das Abstimmungsergebnis wurde allerdings ignoriert, die Grenze mitten durch das Tal gezogen, Familien auseinandergerissen und traditionelle Weidegebiete zerschnitten. Das obere Royatal (wie auch schmale Gebietsstreifen um die Pässe Fenestre, Cerise, Fremamorta und Lombarde) blieben bei Italien.

zweisprachiger Aufruf für den Anschluss an Frankreich - Kollektion Armand Oliviero

Nachkommen der Familien, die damals als Reaktion auf die neue Grenzziehung ihre Heimat verließen und nach Frankreich umsiedelten – was ja im konkreten Fall manchmal nur Fontan, Saorge oder Breil hieß – bildeten später ein starkes Sammelbecken für die Idee der Angliederung des Tales an Frankreich. Dass sich nach der Absetzung Napoleon III. die Situation zwischen Italien und Frankreich zunehmend verschärfte, dass die Grenze zu den ‚Feinden‘ im Süden mit den Forts am Col de Tende gesichert und damit ein Klima erzeugt wurde, das den Gefühlen der Bevölkerung so gar nicht entsprach, machte die Sache nicht besser. Dafür wurde mit der Eröffnung des Tendetunnels (1882) und der Eisenbahnlinie (1913) die geografische Isolation vom Mutterland verringert.

Da Frankreich und Italien im 1. Weltkrieg auf gleicher Seite kämpften, blieb die Region von Kampfhandlungen verschont, und auch danach gab es durchaus Phasen, in denen mit Sonderregelungen der kleine Grenzverkehr erleichtert wurde. Was sich änderte, als Mussolini vor dem zweiten Weltkrieg das obere Royatal mit weiteren Festungsanlagen an strategisch wichtigen Punkten überzog und zu deren Versorgung ein gigantisches Militärstraßensystem baute. Die Pläne sahen unter anderem vor, die Pisten im Val Valmasque und Val d’Enfer – mitten durch das Vallée des Merveilles – miteinander zu verbinden.

es lebe das französische Tende - Foto: © Wolfram Mikuteit

es lebe das französische Tende – Avenue Georges Bidault -Foto: © Wolfram Mikuteit, Aufnahme vom September 2017

Als Mussolini Frankreich im Juni 1940 überfiel, wurden Heerscharen von Saisonarbeitern, die Sommer für Sommer an der Côte d’Azur in Hotels und Gaststätten arbeiteten, von der Schließung der Grenzen überrascht und durften nicht mehr heimkehren. Genauso erging es den Schäfern, die sich mit ihren Herden wie gewohnt auf den französischen Weiden befanden, als der Krieg ausbrach.

Terre Françaises - Kollektion Armand Oliviero

Forderung nach Rückgabe an Frankreich der seit 1860 italienischen Gebiete – Kollektion Armand Oliviero

Hitlers Angriffskrieg gegen die UdSSR, zu dessen Unterstützung Mussolini Hunderttausende schickte, die den Sinn dieses Krieges weder verstanden noch mittrugen, die Besetzung des Royatales durch die Deutsche Wehrmacht, die erbarmungslose Jagd auf Partisanen (zu denen viele jener Soldaten überliefen, die noch vor dem Einmarsch der Deutschen desertieren konnten), Deportationen und Repressalien gegen die Zivilbevölkerung, immer unterstützt von italienischen Einheiten, lieferten der Bewegung neuen Zulauf. 1943 wurde das ‚comité d’action en vue du rattachment du Tende et La Brigue à la France‘ gegründet.

Die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Tales machte auch vor den Reihen der Partisanen nicht halt. ‚In die Berge‘ gegangen waren die Männer, um Zwangsrekrutierung oder Deportationen zu entgehen. Der antifaschistische Widerstand vereinigte sie – aber zu Spannungen kam es dort, wo divergierende Ziele für die Nachkriegszeit aufeinanderstießen: die auf nationalen italienischen Befreiungskampf ausgerichtete Partisanenbewegung brachte den ‚separatistischen‘ Bestrebungen der Menschen aus dem oberen Royatal wenig Begeisterung entgegen. Eine Eskalation der Auseinandersetzungen konnte nur wegen der Abhängigkeit von der Unterstützung der ‚Gaullisten‘ und Alliierten verhindert werden.

Zwei Tage nach der Befreiung durch französische Truppen am 26. April 1945 brachte ein Konvoi 320 Bewohner aus ihrem Zwangsexil an der Küste in ihre Heimatgemeinden zurück. Und bereits einen Tag später organisierte das Komitée für das Rattachment eine Befragung der Bevölkerung, in der sich 1869 Personen für die Angliederung an Frankreich aussprachen.

Vive La Republique Française - Foto: © Wolfram Mikuteit

Vive La Republique Française – Tende – Avenue Georges Bidault N° 62 – Foto: © Wolfram Mikuteit, Aufnahme vom September 2017

Zunächst aber mussten auf Druck der Alliierten die französischen Einheiten am 10. Juli 1945 das Gebiet wieder verlassen – und erneut besetzten Italiener Administration und Schlüsselpositionen zur Aufrechterhaltung von ‚Recht und Ordnung‘.

Auf Drängen von Bevölkerung und französischer Regierung installierten die Alliierten im Mai 1946 eine Untersuchungskommission, die das politische Klima ausloten sollte. Als Ergebnis der Kommissionsarbeit wurde die Möglichkeit der Gebietsabtretung erstmals offziell festgeschrieben – jedoch nur unter der Bedingung, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung dafür ausspräche.

JA oder NEIN - Stimmzettel - Kollektion Armand Oliviero

Damit war die Grundlage für das Rattachment gelegt, niemand zweifelte am positiven Votum. Im Friedensvertrag zwischen Frankreich und Italien, am 10. Februar 1947 in Paris unterzeichnet, wurden die Grenzen neu festgelegt. Neben den vier Orten im Royatal (Tende und La Brigue im Norden, Libre und Piena im Süden) fielen auch die Passgebiete an Frankreich, die bei der Abtretung Savoyens 1860 ausgespart worden waren. Als offizieller Termin wurde der 17. September 1947 angesetzt – die Tricolore wurde bereits einen Tag vorher gehisst.

Das Plebiszit, das diese Grenzziehung endgültig legitimierte, fand am 12. Oktober 1947 statt.

 

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

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Die Slow Food Story, EATALY und gutes Essen im Piemont

Gerade ist in deutschen Kinos der Film „Die Slow Food Story“ angelaufen. Wenn die Erfolgsgeschichte der Bewegung, die Carlo Petrini und seine Freunde geschrieben haben, Zuschauer verzückt und anschließend ins Piemont lockt, ist es auch Zeit, über EATALY zu berichten. Danach könnte es dem Einen oder der Anderen allerdings schwerfallen, hierzulande noch in sogenannten „italienischen Feinkostläden“ (mit den entsprechenden Apothekerpreisen) einkaufen zu gehen.

Die Arche des Geschmacks
Die Slow-Food-Bewegung, deren Beginn mit den erhitzten Protesten um die Eröffnung einer MacDonald’s-Filiale direkt an der Spanischen Treppe von Rom zusammenfiel, ist weit mehr als eine Genießerorganisation und setzt sich dafür ein, dass vom Aussterben bedrohte Gemüse- und Obstsorten, Pflanzen und Tierarten erhalten bleiben und propagiert die Erhaltung traditioneller und typischer Produktionsformen.

Dass man heute wieder ab und zu vom kleinen piemontesischen Weiler Capraùna hört oder lesen kann, verdankt der Ort, in dem mittlerweile nur noch knapp über hundert meist ältere Menschen wohnen, seinen Rüben. Bereits im 16. Jahrhundert soll der süße Geschmack der Rapa di Capraùna urkundlich erwähnt worden sein. Was jedoch nichts daran änderte, dass Rüben zunächst als Bestandteil von ‚Arme-Leute-Essen’ galt und bald darauf fast gänzlich von den Speisezetteln verschwand. Wie für den Kapaun von Morozzo und echten – nicht mit Kuhmilch gestreckten! – Schafskäse hat Slow Food für diese Rübe einen Förderkreis (Presidio) eingerichtet. Wer die Rapa di Capraùna, fein gehobelt und in Balsamico eingelegt, probiert, erinnert sich wieder, wie Rüben schmecken können.

Ein derartiger Förderkreis besteht auch für das Sambucana-Lamm. Als in den 1950er-Jahren staatliche Agrarberater den Bauern zur Kreuzung der traditionellen Schafrasse Razza Sambucana rieten, um den Fleischertrag zu erhöhen, folgten die Meisten dieser Empfehlung. Als Mitte der 1980er-Jahre der Wert dieser Rasse endlich erkannt wurde, und auch die Welternährungsorganisation FAO sie als schützeswert einstufte, gab es im gesamten Stura-Tal gerade noch zwei Betriebe mit nicht mehr als 80 reinrassigen Sambucana-Schafen. Diesen Landwirten, oder: innovationsfeindlichen Traditionalisten, verdanken wir, dass die Razza Sambucana, die besonders feine Wolle liefert und deren Lämmer besonders leckeres, fettarmes und wenig Cholesterin enthaltendes Fleisch aufweisen, erhalten blieb. Mittlerweile gibt es wieder über 5.000 Sambucana-Schafe im Stura-Tal, und jedes Jahr werden circa 10.000 Lämmer geboren. Und längst ist dieses Schaf zu einem Symbol hochwertiger landwirtschaftlicher Regionalprodukte geworden, mit denen allein Landwirtschaft in den piemontesischen Alpentälern eine Zukunft zu haben scheint.

EATALY: „La Vita è troppo breve per bere e mangiare male“
Was sich in Italien alles auf die Arche des Geschmacks gerettet hat, kann man längst nicht nur während der nur einmal jährlich stattfindenden Messe ‚Salone del Gusto‘ probieren. Denn eng verbandelt mit Slow Food sind die EATALY-Läden, in denen auch Produkte der Presidien angeboten werden.

Der erste EATALY-Laden eröffnete im Jahr 2006 – wie sollte es auch anders sein? – im Piemont: In Turin am Lingotto wurde für dieses kulinarische, wie ein Markt aufgebaute Einkaufsparadies eine alte Fabrik umgebaut, in der bis Ende der 1980er-Jahre noch Vermouth produziert wurde. Hier findet man an hochwertigen Lebensmitteln alles, was das Herz begehrt. Aber nur, wenn die Saison es auch hergibt: Wer zu Weihnachten etwa nach Erdbeeren sucht, wird hier nicht fündig.

Mittlerweile gibt es EATALY-Läden in mehreren italienischen Orten und auch in New York und Tokyo. Für uns ist wichtiger, dass es seit 3 Jahren auch im kleinen Städtchen Pinerolo eine Dependance gibt.

Das Buch zum Film
Nachgelesen werden kann die Slow-Food-Story im bereits vor 10 Jahren im Zürcher Rotpunktverlag erschienenen Buch „Slow Food. Geniessen mit Verstand“ von Carlo Petrini. Es bietet einen hervorragende Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Bewegung und über die zentralen Anliegen und Aktivitäten.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

 

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Gedenkorte in Italien und Frankreich

Wenn wir in unsere bewusst knapp gehaltene Linkliste – das Schielen auf ‚Klickraten’ überlassen wir gerne Anderen – neue Einträge aufnehmen, ist uns das eine Meldung wert. Das Internetportal „Gedenkorte Europa“ bietet einen interessanten Wegweiser zu Orten in Italien und Frankreich, in denen an die Besetzung durch Nazi-Deutschland, an Lager, Deportationen, Zwangsarbeit, Massaker an der Zivilbevölkerung und den Widerstand durch französische Résistance und italienische Resistenza erinnert wird.

Goethe hatte recht: Man sieht nur, was man weiß
Auf der Gardetta-Hochebene sind wir Anfang der 1990er-Jahre auf über 2.000 Metern Höhe erstmals gestolpert: Über ein großes Eisenkreuz mit einer Inschrift zum Gedenken an die Gebrüder Renato und Vincenzo Stasi, „Vittimi innocenti della violenza nazista, uccisi in questo luogo il 21 agosto 1944“.

Da halfen weder leidlich gute Schulbildung noch ein langes Studium. Unser erster Impuls war: „Was hatten denn die Nazis auf dieser Wiese zu suchen?“

Im Piemont, wie auch im übrigen Italien, sind ‚Stolpersteine‘ zur Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit nicht in den Boden eingelassen und auch deutlich größer als bei uns. Sie sind unübersehbar und bedienen sich einer ganz unverblümten Sprache. Was allerdings nichts daran ändert, dass sich bei einmal gewecktem Interesse die Suche nach Hintergrundinformationen über die jeweiligen Ereignisse sehr schwierig gestaltet.

Wir wollten nicht nur erfahren, was geschehen war in diesen 20 Monaten zwischen September 1943 und Ende April 1945, sondern auch aus welchen Beweggründen sich Menschen ganz unterschiedlicher politischer Couleur zusammengeschlossen hatten, um gegen deutsche Besatzung und italienischen Faschismus und für einen radikalen Wandel in ihrem Land zu kämpfen. Bis sich aus all den Mosaiksteinen, die wir unterwegs auf unseren Touren fanden – in kleinen Buchläden vor Ort und in großen Archiven in Deutschland – ein zusammenhängendes Bild ergab. Für die Alpenregion zwischen Gran Paradiso und Monviso – irgendwo mussten wir schließlich anfangen und haben uns für die piemontesische Provinz Turin entschieden – haben wir mit „Partisanenpfade im Piemont das Buch geschrieben, das wir selbst vor über 20 Jahren bei unseren ersten Wanderungen gern dabeigehabt hätten.

Für andere Gebiete der Westalpen, für das Aostatal, Ligurien, die französischen Regionen Provence-Alpes-Côte d’Azur und Rhône-Alpes wie auch andere Provinzen des Piemonts verweisen wir nun (zunächst) auf das neue Gedenkorte-Portal des Studienkreises Deutscher Widerstand.

Neues Internetportal zu Orten von NS-Verbrechen und Widerstand
Mit dem Internetportal gedenkorte-europa.eu will der in Frankfurt am Main ansässige, 1967 von Martin Niemöller, Wolfgang Abendroth und anderen gegründete Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 e.V. an die Geschichte der Besatzung und des Widerstands in Europa während der Nazi-Diktatur erinnern und zu Besuchen der Gedenkorte anregen, die Wege dorthin aufzeigen und erste Informationen anbieten.

Mehr als 700 Gedenkstätten in Frankreich und Italien umfasst das Portal bereits, das seit Ende Januar 2013 – punktgenau zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Machtübernahme durch die NSDAP – zur Verfügung steht: Neben auch bei uns bekannten Orten wie Marzabotto, den Ardeatinischen Höhlen, Sant’Anna di Stazzema und Oradour-sur-Glane, Lagern wie Drancy, Gurs, Fossoli und Bozen sind es vor allem kleinere Orte, die in keinem Reiseführer erwähnt werden. Gegliedert nach Staat und Regionen wird zu jedem der aufgeführten Gedenkorte über die Geschehnisse und das Gedenken daran vor Ort informiert. Google-Maps-Karten erleichtern nicht nur die Anfahrt sondern auch das Auffinden von Museen, Monumenten, Gedenksteinen für Opfer des Widerstands und Hinweistafeln auf Verbrechen der Besatzungsmacht.

Einführungen zu den Regionen, Sachstichworte wie z. B. Kollaboration, Judenverfolgung, Partisanenbekämpfung, Maquis oder Frauen im Widerstand bietet das Portal ebenso wie viele Kurzporträts von Tätern/ Faschisten (u.a. Kesselring, Rommel, Engel, Barbie und Best) und Opfern/ Widerständlern wie Duccio Galimberti, Primo Levi, Jean Moulin, Lucie Aubrac und vielen anderen. Fotos und Wegbeschreibungen, Literatur- und Medienhinweise ergänzen die Texte.

Gedenkorte Europa 1933 - 1945

Punkte auf der Landkarte für Geschichte, die in Reiseführern fehlt
Dass es in Borgo San Dalmazzo ein Konzentrationslager gab, wissen Leser unseres Blogs. Auch über die Stolpersteine entlang des ‚Tracce del ricordo‘ in Saluzzo haben wir hier bereits berichtet. Über Boves,  wo deutsche Truppen bereits in den ersten Besatzungstagen mit brutalen Vergeltungsmaßnahmen auf Widerstand antworteten und den Ort zu einem „Archetyp späterer Blutbäder“ (Lutz Klinkhammer) machten, informiert das Gedenkorte-Portal. Weist in Cuneo den Weg zum Parco della Resistenza und der Casa Galimberti und zeigt auf, wie die Fondazione Nuto Revelli aus der verlassenen Sommersiedlung Paralup im Sturatal einen sehr ambitionierten Ort der Erinnerung geschaffen hat.

Aber auch bei Städten abseits der Westalpenregion, die wir gut zu kennen glaubten, werden wir durch das Gedenkorte-Portal auf Orte und Plätze hingewiesen, die uns bisher nie aufgefallen sind. Ein etwas anderer Blick auf Côte d’Azur, Toskana, Korsika und Rom.

Sabine Bade

Mitglied der Redaktion von gedenkorte-europa.eu

 

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Intellektuelle im Widerstand: Die Einaudis …

… heißt ein einleitendes Kapitel unseres Buches ‚Partisanenpfade im Piemont’, das wir als Beispiel für gelebten Widerstand während der 20 Jahre andauernden faschistischen Herrschaft Mussolinis geschrieben haben. Widerstand, der – wenn auch klandestin – aktiv betrieben wurde, lange bevor im September 1943 der bewaffnete Kampf, die Resistenza gegen deutsche Besatzung und italienischen Faschismus begann.

Am 15. November 1933 gründete Giulio Einaudi zusammen mit Leone Ginzburg und Cesare Pavese in Turin den Buchverlag Einaudi. Dieses Jahr wäre Giulio Einaudi 100 Jahre alt geworden, was die Stadt Turin zum Anlass nahm, unter den Arkaden der Via Po mit einer Plakataktion an ihn zu erinnern.
Wir tun es ihr nach.

Dass es elf Jahre nach der Machtübernahme der Faschisten in Italien (und ein halbes Jahr nach den Bücherverbrennungen in Hitler-Deutschland) überhaupt möglich war, zur alles dominierenden patriotischen Kultur des Faschismus auf Distanz zu gehen, setzte gratwanderndes Geschick im Umgehen von Vorschriften voraus, für die die Protagonisten auch Haftstrafen und Verbannung in Kauf nahmen.

Die Wurzeln des Verlages gehen auf das Turiner Liceo d’Azeglio zurück. Dort unterrichtete mit Augusto Monti ein Lehrer aus dem Kreis um den früh verstorbenen Piero Gobetti, der sich wenig an die vorgegebenen faschistischen Erziehungsideale hielt und seine Schüler zu kritischem Denken anregte. Cesare Pavese, Leone Ginzburg, Norberto Bobbio, Massimo Mila, Vittorio Foa und der etwas jüngere Giulio Einaudi hatten sich durch ihn kennengelernt und gründeten 1927 ihre legendäre Confraternità.

Eine Bruderschaft kluger junger Männer (Ginzburg beherrschte bereits als 15-Jähriger mehrere Sprachen fließend und schrieb für diverse Zeitungen), die zusammen viel Spaß hatten und dabei die Welt theoretisch auseinandernahmen und viel besser wieder zusammensetzten.
Viele von ihnen traten zu Beginn der 1930er-Jahre der 1929 im Pariser Exil gegründeten Widerstandsorganisation Giustizia e Libertà bei.

Und als Luigi Einaudi (damals als bedeutender Wirtschaftswissenschaftler Herausgeber mehrerer Zeitschriften, im Nachkriegs-Italien Ministerpräsident von 1948–1955) seinem damals gerade 21-jährigen Sohn 1933 die Herausgeberschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Zeitung La Riforma Sociale übertrug, machten sich die Freunde daran, das Blatt nach ihren Vorstellungen umzukrempeln und auch in die Buchproduktion einzusteigen.

Was die Ausrichtung ihres Verlages anbelangte, orientierten sie sich an Laterza Editori, zu dieser Zeit das einzige italienische Verlagshaus mit antifaschistischem Profil. Für Laterza gab der Philosoph Benedetto Croce, den die Mitglieder der Confraternità seit ihrer Schulzeit verehrten, diverse theoretische Buchreihen heraus. Benedetto Croce war eine der großen Leitfiguren Leone Ginzburgs. Zwar konnte sich ihr Verlag offene Kritik am Faschismus, wie Croce – seit 1910 vom König ernannter Senator auf Lebenszeit – sie formulierte, nicht leisten, aber er sollte mit anderen Mitteln dasselbe bewirken: Provinzialismus entgegenwirken und neue Denkräume erschließen, neue und vor allem breitere Leserschichten erreichen. Bildung für jedermann schwebte ihnen vor. So schrieb Pavese über in Italien damals vollkommen unbekannte amerikanische Schriftsteller wie Sinclair Lewis, Sherwood Anderson, Edgar Lee Masters, John Dos Passos und Walt Whitman. Massimo Mila schrieb über Musik, Norberto Bobbio über Philosophie und der Maler Carlo Levi über Kunstgeschichte. Einaudi kümmerte sich um das Geschäftliche und leitete den Verlag mit großem Geschick.

Das Verlagsprogramm war international ausgerichtet, zu den amerikanischen Autoren kamen die russischen hinzu: Ginzburg übersetzte Puschkin, Dostojewski und Tolstoi. Was vor allem nach dem Einmarsch der Italiener in Russland an der Seite Hitler-Deutschlands zu Problemen führte. Als Anfang 1942 Tolstois Krieg und Frieden erschien, startete der Journalist Goffredo Coppola – ein Wegbegleiter Mussolinis bis zur gemeinsamen Flucht Richtung Schweizer Grenze Ende April 1945 – in der Zeitung Popolo d’Italia einen scharfen Angriff gegen Einaudi: Mit der Veröffentlichung habe der Verlag Parallelen ziehen wollen zwischen Napoleons Angriff auf Russland und der deutsch-italienischen Achse, was nur Anhängern von Benedetto Croce und Hörern von Radio London einfallen könne. Und ganz generell: Ein Verlag, der unter 33 Neuveröffentlichungen 23 Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Russischen liefere, sei durch und durch unitalienisch.
„Basta!“ schloss der Artikel, „Basta mit diesen Nataschas, diesen Borissen, diesen Idioten.“

Jede Neuerscheinung musste vom zuständigen Ministerium genehmigt, die Zensur jedes Mal aufs Neue ausgetrickst werden. Immer mal wieder auch ein Buch ins Programm genommen werden, nur um „die Rhetorik des Nationalsozialismus zu dokumentieren“, wie Einaudi es formulierte.
Giulio Einaudi Editore blieb dem gesteckten Ziel der Confraternità bis zum Jahr 1983 treu.

Weitere Informationen über die Protagonisten des Einaudi-Verlages, wie sie sich neben der Verlagsarbeit in den Widerstand einbrachten und wo heute noch an sie erinnert wird, finden sich im Buch.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

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Zum Verhältnis von Wanderern und Motorradfahrern im Piemont und anderswo

Vor einiger Zeit hat Markus Golletz auf seiner Seite motorradreisefuehrer.de eine sehr positive Rezension zu unserem Piemont-Wanderführer veröffentlicht.

Strada dell'Assietta

Anstatt dieses Lob einfach nur dankend abzuheften, haben wir uns Gedanken gemacht über die einzige kritische Anmerkung, die der Artikel enthielt:
„An manchen Stellen beklagen sich die Autoren über die Befahrbarkeit von alten Militärstraßen, was mit uns Bikern zum Konflikt führt. Eine Annäherung von beiden Seiten ist vielleicht der richtige Schritt. Deswegen auch diese Rezension auf einer sonst reinen Motorradseite.“

Wir haben Markus Golletz in einem offenen Brief geantwortet, den er im März dieses Jahres veröffentlicht hat. Sein Teaser:
„Das haben wir uns schon lange gewünscht: Eine Wortmeldung aus dem ‚anderen Lager‘: Wie können Wanderer und Enduristen Co-existieren, wie kann die Natur geschützt und erhalten bleiben? Sabine Bade und Wolfram Mikuteit (Westalpenblog) haben eine Idee“.

Da uns natürlich vorrangig die Meinung anderer Wanderer interessiert, veröffentlichen wir unseren Leserbrief auch hier auf unserem Blog.

Lieber Markus,
Zunächst – wenn auch mit ‚leichter’ Verspätung – ganz herzlichen Dank für die positive Rezension unseres Piemont-Wanderführers!
Und für die Möglichkeit, uns hier zum Thema der piemontesischen Militärstraßen zu äußern.
Es geht darum, ein paar Vorurteile auszuräumen und mit dem weitverbreiteten Ansatz aufzuräumen, hier stünden sich zwei unterschiedliche Lager unversöhnlich gegenüber. Wanderer sind weder die besseren Menschen, noch stehen sie per se dem Naturschutzgedanken näher als Motorrad- oder Geländewagenfahrer. Schwarze Schafe und Umweltrüpel gibt es überall. Wir sehen deshalb eine viel größere Schnittmenge in der Interessenslage von motorisierten und unmotorisierten Höhenwanderern als gemeinhin angenommen wird. Darüber hinaus bestehen natürlich auch unterschiedliche, vollkommen konträre Ansprüche – die jedoch mit einfachen Regeln umzusetzen wären.

Blick vom Monte Triplex auf den Mont Chaberton, 3.131 m
Zunächst aber kurz zu Deiner Anmerkung, wir würden uns ganz generell über die Befahrbarkeit von alten Militärstraßen beklagen und damit den Konflikt mit Bikern heraufbeschwören. Das sehen wir – wen wundert’s? – anders:
Wir schreiben Wanderbücher, und geben dem Leser nicht nur einen vagen Überblick über die Route, sondern bemühen uns, über die Beschaffenheit der Wegstrecke möglichst umfassend zu informieren.
Wenn man über 1.000 Höhenmeter aus dem Tal aufgestiegen ist und unterwegs nichts anderes gehört hat als Vögelgezwitscher und Murmeltierschreie, ist es schon ein Erlebnis der ganz besonderen Art, plötzlich ohne Vorwarnung auf 2.500 Meter Höhe an einer vielbefahrenen Kreuzung zu stehen. Und wenn man Pech hat, dabei auch gleich in die dicke Staubwolke vorbeirasender Quadfahrer gehüllt wird.
Darauf hinzuweisen ist unseres Erachtens Aufgabe eines guten Wanderführers. Damit Wanderer darauf vorbereitet sind und sich ggf. eine andere Tour aussuchen.
Weitwanderer aber haben diese Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Strecke oft nicht. Wer auf der Grande Traversata delle Alpi (GTA) oder Via Alpina vom Susa- in das Chisonetal überwechseln will, gerät zwangsläufig an diese Kreuzung auf 2.500 Meter Höhe auf der Strada dell’Assietta und muss sich dann auch noch ein ganzes Stück weit die Schotterpiste mit Autos/Motorrädern/Quads teilen.
Das klappt in aller Regel auch gut – weil die überwiegende Mehrheit der Fahrer auf Fußgänger sehr viel Rücksicht nimmt. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, und es gibt sicher Angenehmeres, als von einer langen Wagenkolonne überholt zu werden und statt Bergluft eben Auspuffgase einzuatmen.
Richtig böse wird es aber, wenn zerfräste Hänge oder der eigene Augenschein aufzeigen, dass manch Crosser die Hochlagen der Westalpen mit der heimischen Kiesgrube verwechselt und sie als Übungsgelände für sein fahrerisches Können nutzt. Wohlgemerkt: Wir schreiben hier über eine Straße, die durch das Naturschutzgebiet des Parco Naturale del Gran Bosco di Salbertrand führt.


Forte Gran Costa, 2.584 m. Die Piste hier hoch ist schon seit vielen Jahren unpassierbar und die Zufahrt mittels massiver Eisenschranke versperrt.
Oder wenn man als Fußgänger auf einer dieser tollen Militärstraßen unterwegs ist, die durch Verbotsschild oder Schranke für den öffentlichen Verkehr eindeutig gesperrt sind – und die dann dennoch befahren werden. Ausflüchte reichen in diesen Fällen von „die Schranke ließ sich ja leicht entriegeln“ bis „das Verbotsschild war italienisch, das konnten wir nicht lesen“. Oder wenn – trotz Sperrung – auch der letzte klägliche Gletscherrest am Colle Sommeiller befahren wird, nur um am legendären ‚Fahnenhügel’ die 3.000-er Marke zu knacken!
Diese aufgeführten Beispiele dürften genügen. Dir ist diese Materie ja schließlich nicht fremd. Wir wollten damit nur aufzeigen, worüber wir uns wirklich beklagen. Übrigens auch in großer Übereinstimmung mit vielen Bikern. Die müssen nämlich durch das Fehlverhalten einiger Weniger – durch die wenig umweltverträgliche ‚Umnutzung’ dieser Strecken zum Fun-Park – befürchten, dass über kurz oder lang immer mehr dieser Straßen gesperrt werden. Und das wollt weder „Ihr Biker“ – noch wir!
Denn entdeckt haben wir diese traumhafte Region vor langer Zeit auf den zwei Rädern einer KTM. Und wären ohne die unter Mussolini erbauten Militärstraßen eventuell nie auf den Reiz des Westalpenbogens als Wanderdestination aufmerksam geworden. Und weil es gerade im näheren Umfeld der Assietta so viel zu entdecken gibt, befahren wir diese Straße auch heute noch von Zeit zu Zeit. Es wäre auch schade, wenn der gesamte Assietta-Grat ausschließlich Jenen vorbehalten bliebe, die in der Lage und willens sind, einen Aufstieg von über 1.000 Höhenmetern auf sich zu nehmen und – oben angekommen – dann zudem keine Übernachtungsmöglichkeiten finden.

  Testa dell’Assietta, 2.565 m. Zu Fuß am schnellsten von Salbertrand auf der GTA und Via Alpina zu erreichen.
Wanderer können wegen der Länge der Tour meist nur zur Testa dell’Assietta – haben damit noch nicht einmal die Möglichkeit, sich die vielen Festungen unterschiedlicher ‚Baureihen’ anzuschauen. Und nehmen dann auch beispielsweise gar nicht wahr, dass sich hier im Jahr 1944 die heiß umkämpften Außengrenzen der ‚Repubblica Libera Val Chisone’ befunden haben, eine im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannte freie Partisanenrepublik.
Colle dell'Assietta - im Julin und August , Mittwoch und Samstag von 9 - 17 Uhr Ruhe Wir beklagen also nicht die generelle Befahrbarkeit der alten Militärstraßen – sondern vor allem ihren Mißbrauch.
Darüber hinaus wäre wünschenswert – und würde das Verhältnis zwischen motorisierten und unmotorisierten Nutzern dieser Straßen sofort befrieden – wenn in allen Sommermonaten bestimmte Wochentage ausschließlich Wanderern, Mountainbikern und Reitern vorbehalten wären. Die dann ohne Motorengeräusche an diesen Tagen eventuell auch die Möglichkeit hätten, das eine oder andere etwas scheuere Tier zu sehen – oder schlicht in aller Ruhe einmal ohne Zivilisationsgeräusche nur das Panorama genießen könnten.
Wenn derartige Regelungen frühzeitig und mehrsprachig kommuniziert und auch nicht Jahr für Jahr geändert werden, sehen wir nicht, warum ein konfliktfreies Verhältnis zwischen Wanderern und Bikern nicht möglich sein sollte!
Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

 

 

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