Aktuelles aus dem Susatal – Ora e sempre NO TAV

In Italien schielt Berlusconi auf die Einführung von Eurobonds und hat zur Eindämmung des riesigen italienischen Staatsdefizits gerade ein Sparpaket verabschiedet, das den Etat in den kommenden zwei Jahren um mehr als 54 Milliarden Euro entlasten soll. Was ausgesprochen plakativ als Programm von ‚Blut und Tränen‘ avisiert wird, stellt aber wohl nur EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso zufrieden – er sprach von einem ‚Signal der Entschlossenheit‘, wohingegen die Ratingagentur Standard & Poor‘s Italiens Bonität gnadenlos herabstufte. Schaut man sich die Einsparungen, hier vor allem auf Gemeindeebene, an, wird schnell klar, dass sich das seit Jahren betriebene Sparen an der falschen Ecke nahtlos fortsetzt: Wir haben über Finanzmittelkürzungen in italienischen Parkgebieten berichtet, und auch die Zusammenlegung und Umstruktierung der Berggebietsgemeinschaften, der Comunità Montane, böte reichlich Stoff  für eine Glosse.

Prestigeträchtige Großprojekte wie die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Lyon und Turin, des ‚Treno ad Alta Velocità‘ (TAV) durch das Susatal, hingegen bleiben unangetastet (*). Schließlich gilt es hier, die EU-Subventionen von 671 Millionen Euro nicht zu riskieren. Kein schlechter Zeitpunkt also für ein internationales Forum gegen unnütze Großprojekte.

Forum tematico contro le grandi opere inutili
Forum Tematico Contro Le Grandi Opere Inutile Die NO-TAV-Bewegung hatte eingeladen zu diesem Forum, und vom 26. bis 30. August 2011 trafen sich dazu Vertreter verschiedener Gruppen aus dem In- und Ausland im Gymnasium von Bussoleno und an der Mahnwache von Venaus.
Wenn es einer breitgefächerten Bürgerbewegung gelingt, den Widerstand gegen ein ihr Tal  zerstörendes gigantisches Großprojekt über mehr als 20 Jahre hinweg aufrecht zu erhalten, wenn circa 90 Prozent der Talbevölkerung diesen Widerstand tragen, angeführt von den Bürgermeistern der meisten Gemeinden des Tales, dem Präsidenten der Comunità Montana Valle Susa e Val Sangone, unterstützt von Umweltschutz-organisationen wie Legambiente und vielen Wissenschaftlern – sie aber dennoch nicht in der Lage sind, das Vorhaben zu stoppen, ist es an der Zeit, den bisher schon locker vorhandenen Erfahrungsaustausch mit anderen Bewegungen im In- und Ausland zu systematisieren.

Neben vielen Gegnern des ‚Stuttgart-21‘-Projektes – es schwäbelte mächtig vor Ort – waren Gegner anderer europäischer Hochgeschwindigkeitsstrecken aus dem Friaul, dem französischen Teil des Baskenlandes, aus Katalonien sowie des Tiefbahnhofprojektes in Florenz angereist. Aus der Bretagne kam eine Delegation, die gegen den Flughafenneubau von Notre-Dame-des-Landes kämpft, und aus den Abruzzen Gegner der geplanten gigantischen Erdgaspipeline zwischen Brindisi und Minerbo, die das Zweieinhalbfache des ganzen italienischen Gasverbrauchs durch eine der erdbebengefährdetsten Regionen Europas transportieren soll.
Neben Berichten aus den Protestbewegungen hatten die Veranstalter aus dem Susatal  Wissenschaftler eingeladen, die u.a. dafür plädierten, in Kosten-Nutzen-Rechnungen die real entstehenden Kosten im gesamten Zyklus, also vom Abbau und Transport der Materialien für einen Bau bis hin zum vollständigen Rückbau der Anlagen einzubeziehen.

Parallelen zwischen den einzelnen während der Veranstaltung vorgestellten Großprojekten waren so offenkundig wie die auf Seiten der jeweiligen Betreiber gebetsmühlenartig wiederholten Pro-Argumente, die sich auf eine zentrale Aussage verknappen lassen:
„Wenn wir nicht bauen, verlieren wir den Anschluss an die Zukunft – und die Millionen aus der EU-Förderung!“
Parallelen bestehen darüber hinaus in der einseitigen Berichterstattung, die beispielsweise die Vorkommnisse im Susatal nur thematisiert, wenn reißerisch von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“, „gewaltbereiten Extremisten“ u.ä. geschrieben wird oder die TAZ nicht eben sachdienlich vom „Exportschlager Bahnprotest“ berichtetet.
Dies und die allgegenwärtige Kriminalisierung von Großprojektgegnern bieten genügend Stoff für weitere Foren: Das nächste soll im kommenden Jahr stattfinden, eventuell in Stuttgart.

Pilgern auf der Via Francigena – einmal ganz anders
Und weil es so schön zum Thema passt, hier noch eine kleine Glosse:
Jüngst haben sich die Tourismus-Verantwortlichen der Provinz Turin darauf besonnen, dass es neben dem bei uns bekannten Verlauf der Via Francigena von Canterbury nach Rom auch noch viele weitere Strecken gab, auf denen sich Pilger von Franken auf den Weg nach Rom machten: Wer von Westen kam, nutzte dabei meist die Passübergänge am Mont Cenis oder Mongenèvre, ging also durch das Susatal. Wovon heute noch viele Klöster und Hospize zeugen.
Jetzt kann man in allen Tourismusbüros einen kostenlosen Faltplan zur durch das Susatal verlaufenden Via Francigena bekommen, auf den Seiten von Turismo Torino sind die einzelnen Etappen beschrieben, und auch ein kleiner Werbefilm wurde dazu gedreht.

Wegmarkierung - Via Francigena Geht man aber auf diesem Weg von Gaglione in westlicher Richtung auf Chiomonte zu – immer der neu angebrachten Pilgermarkierung folgend – gelangt man nach circa einer halben Stunde an ein etwas anderes ‚Pilgerziel‘, nämlich direkt zur NO-TAV-Mahnwache an der Clarea! Dort findet der Weg, seitdem das Baustellengelände zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde, nun sein abruptes Ende. Tourismusförderung hin oder her.
Was niemanden grämen sollte, denn dort steht ein von der NO-TAV-Bewegung eigens errichteter Bildstock. Von dem aus man – andächtig – hinunter blicken kann auf das Sperrgelände, das bewacht wird von Truppen der Brigata Alpina Taurinense. Gerade noch haben sie unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt, jetzt sichern sie eine Baustelle ….  gegen die eigene Bevölkerung.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

(*)
Durch das Susatal zu kommen und nicht auf die ‚NO TAV‘-Bewegung aufmerksam zu werden, ist schlicht unmöglich. Weshalb wir uns im Artikel ‚Hochgeschwindigkeitsstrecke von Turin nach Lyon durch das Susatal – NO TAV!‘ mit diesem Projekt auseinandergesetzt haben. Hier noch einmal ein kurzer Auszug der wichtigsten, gegen das Projekt sprechenden  Argumente:

* Alle erhobenen Daten zeigen einen unaufhaltsamen Rückgang der Güter- und Personenbewegungen auf der Linie und lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass die bereits bestehende Bahntrasse vollkommen ausreicht. Der Personenverkehr – bereits seit vielen Jahren existiert eine TGV-Verbindung zwischen Turin und Lyon! – hat sich seit 1993 halbiert. Der Gütertransport durch den Autobahntunnel von Fréjus ist 2009 auf 10 Mio. Tonnen, d.h. auf das Niveau von 1993, zurückgegangen.
* Es gibt weder technische noch Kapazitätsengpässe. Der heutige Tunnel ist über mehrere Jahre hinweg bis Ende 2010 komplett modernisiert worden.
* Die Energiebilanz des geplanten 57 km langen Basistunnels ist absolut negativ. Sowohl die an der Universität von Siena durchgeführten Untersuchungen zum Energieverbrauch durch den Bau und den Betrieb der neuen Tunnelstrecke als auch die Errechnung des Energieverbrauchs durch das Belüftungs- und Kühlsystem ergeben jede für sich einen CO2-Ausstoß pro Transportladung, der höher ausfällt als der der Ladungen im heutigen Tunnel, selbst bei dessen vollkommener Auslastung.
* Die Sicherheitsvorkehrungen des geplanten Basistunnels, da auf demselben Gleis und in engstem Zeittakt sowohl Personenzüge mit 220-240 km/h als auch Güterzüge mit 100-120 km/h verkehren sollen, sind vollkommen unzureichend.
* Werfen wir noch einen Blick auf die Kosten dieses Megaprojektes: Mario Cavargna, der Präsident von „Pro Natura Piemonte“, hat anlässlich einer Konferenz in Straßburg am 9.3.2011 dargestellt, dass sich auf Basis der im Jahr 2007 geplanten Streckenführung Kosten von 175 Mio. € pro km Bahnstrecke ergeben.

 

 

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