Archiv der Kategorie: NO TAV

Wogegen sich die Talbevölkerung seit vielen Jahren zur Wehr setzt sind die Bauvorhaben der Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Turin und Lyon. Das aus dem Jahr 1989 herrührende Projekt sieht vor, in dem durch Transitverkehr bereits stark belasteten Susatal einen der längsten Basistunnel der Alpen entstehen lassen. Zunächst für den Personenverkehr konzipiert, soll die Strecke nun im Rahmen des transeuropäischen ‚Verkehrskorridor 5 Kiev – Lissabon‘ auch als Gütertransportverbindung fungieren – wobei allerdings noch nicht einmal Hochrechnungen der Betreibergesellschaften davon ausgehen, dass von diesem Angebot besonders rege Gebrauch gemacht werden wird.

NO TAV – Europäische Unterstützung für das Bahnprojekt „Lyon-Turin“ bröckelt

Im neuesten CIPRA-Newsletter Nr. 10/2014 berichtet die Internationale Alpenschutzkommission über eine kürzlich veröffentlichte Studie zur alpinen Verkehrspolitik im Auftrag des Europäischen Parlaments. Die Ergebnisse zur TAV-Strecke durch das Susatal erstaunen uns nicht:

Viele Fragezeichen bei „Lyon-Turin“
„Das Fazit der Studie zur geplanten neuen Bahnstrecke zwischen Lyon und Turin ist ernüchternd. Zum einen wurden wichtige Meilensteine in der Planung eines solchen Grossprojekts übersprungen: Kosten und der Nutzen von alternativen Varianten wurden nie vergleichend untersucht, die gesetzlich vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung wurde nicht durchgeführt laut der Richtlinie. Die erste öffentlich zugängliche Kosten-Nutzen-Analyse wurde erst 2012, also 20 Jahre nach Beginn der Planungen, von den Promotoren erstellt. Bis heute fehlt eine wirtschaftliche Analyse für den Zeitraum, in der die Strecke tatsächlich in Betrieb ist. Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit sind mangelhaft. Zum anderen stellt die Studie die Notwendigkeit der neuen Bahnstrecke in Frage: Denn die Berechnungen sind falsch, gemäss derer immer mehr Güter auf dieser Strecke transportiert werden müssen. Ausserdem reichen die Kapazitäten der bestehenden Linie noch für die nächsten 20 Jahre aus. Die Europäische Kommission will das Projekt nun nicht mehr als Gesamtes finanzieren, sondern nur die Gelder für die jeweiligen Teilabschnitte freigeben. Michael Cramer, Vorsitzender des Verkehrsausschusses des Europäischen Parlaments, sieht in dieser Reaktion eine erste Distanzierung vom Projekt.“

Wir meinen: Das wird auch langsam Zeit.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

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Aus Chiomonte im Susatal kommt der vermutlich kostbarste und bestgeschützte Wein der Alpen

Armee und Carabinieri am Weinberg
Einen knapp 6-stelligen Betrag lässt es sich der italienische Staat seit drei Jahren täglich kosten, die Baustelle für einen der Zugangsstollen zum geplanten Basistunnel der Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Turin und Lyon bei Chiomonte bewachen zu lassen.

NO TAV - Baustelle bei Chiomonte - Foto: © Wolfram Mikuteit

Durch dieses Areal, die bestgesicherte Baustelle Italiens bereits lange bevor dort die ersten Arbeiten begannen, müssen auch die Winzer von Chiomonte, um zu ihren Weinbergen zu gelangen.

Was das bedeutet, ist in der Glosse des aktuellen alpMedia Newsletter der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA nachzulesen, die wir hier mit freundlicher Genehmigung wiedergeben:

„Oh!…
… wahrscheinlich ist es der kostbarste, ja sogar der bestgeschützte Wein in den Alpen.

Denn die Weinberge in Chiomonte – einem kleinen Bergdorf im piemontesischen Susa-Tal – kann nicht jeder betreten. Ein Personalausweis ist mindestens erforderlich, meist braucht es einen Passagierschein des Präfekten, also des Vertreters des Staats, und eine Sondergenehmigung der Quästur, also der Polizei. Diese Zugangsbeschränkung gilt nicht etwa nur für die protestierenden GegnerInnen der Hochgeschwindigkeitsbahn Lyon-Turin. Auch BäuerInnen, WinzerInnen und ErntehelferInnen brauchen eine Genehmigung, um sich in der Nähe der Baustelle des Basistunnels in ihrem Acker aufhalten zu können. Nur gut, dass der Laden der ebenfalls durch Heer und Polizei gesicherten Kellerei in das frei zugängliche Dorf verlegt wurde. So können WeinkennerInnen und Genussmenschen eine von 25’000 jährlich abgefüllten Flaschen aus einem der geschütztesten und höchstgelegenen Anbaugebiete Europas sicher erwerben.“

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

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NO TAV im Jahr 2014: Hohe Schadensersatzforderungen sollen den Widerstand brechen

215.000 Euro sind kein Pappenstiel!

„Durch das Susatal zu kommen und nicht auf die ‚NO TAV‘-Bewegung aufmerksam zu werden, ist schlicht unmöglich. Knapp und kategorisch bringt die Bevölkerung des Tales damit zum Ausdruck, was sie verhindern will: den Treno ad alta velocità, beziehungsweise die Bauvorhaben, die hier geplant sind, um die Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Turin und Lyon zu realisieren“, schrieben wir bereits vor 6 Jahren.

 

 

Damals berichteten wir über die Aktion Io ho comprato un posto in prima fila, mit der am 30. März 2008 in Chiomonte im oberen Susatal 1.250 Menschen zu neuen Grundbesitzern wurden: Sie hatten entlang der geplanten Bahntrasse jeweils einen Quadratmeter Land erworben – Kaufpreis: 15 Euro – und stellten sich damit bei etwaigen Enteignungsverfahren ‚in die erste Reihe‘.

Mit vielen friedlichen Großdemonstrationen, mit der Ausrichtung des “Forum gegen unnütze Großprojekte”, das unter Beteiligung auch vieler S-21-Gegner vom 26. bis 30. August 2011 in Bussoleno stattfand, mit dem Aufbau von Hüttendörfern und Mahnwachen und phantasievollen Protestaktionen wie auch weiteren Landaufkäufen wehrt sich die Bevölkerung des Susatals mit friedlichen Mitteln gegen dieses völlig sinnentleerte Projekt, das ihr Tal über Jahrzehnte hinweg in eine Großbaustelle verwandeln soll.

Ein „Laboratorium der Basisdemokratie“ nannte Marco Revelli von der Università degli Studi del Piemonte Orientale das piemontesische Susatal. Als „Terroristen“ hingegen, die das Tal in ein Bürgerkriegsgebiet verwandeln, werden sie gern von italienischen Presseagenturen bezeichnet, die anhand von Ausschreitungen einiger Weniger den Presseleuten im In- und Ausland den richtigen reißerischen  „Aufhänger“ liefern.

Der Versuch, die gesamte NO-TAV-Bewegung zu kriminalisieren, hat sich in vielen Verfahren niedergeschlagen. Ohne den Widerstand jedoch brechen zu können.

Ein neues Instrument, mit dem versucht wird, der Bewegung die Unterstützung zu entziehen, stellen zivile Schadensersatzklagen dar: Der italienisch-französischen Betreibergesellschaft LTF (Lyon Turin Ferroviaire) wurden Schadensersatzansprüche zugesprochen, die sich mit allen durch den Prozess entstandenen Kosten auf 215.043,82 Euro belaufen. Zur Zahlung verurteilt wurden Alberto Perino, einer der Sprecher der NO-TAV-Bewegung, Loredana Bellone, die Bürgermeisterin von San Didero und Giorgio Vair als Verantwortliche für die – übrigens wieder ganz friedlich verlaufene – Besetzung eines Areals am 11. und 12. Januar 2010, auf dem nahe Susa eine Probebohrung vorgenommen werden sollte.

Das von der Aktion aufgenommene Video zeigt, wie Alberto Perino den Betreibervertretern sehr höflich klarmachte, dass hier die Talbevölkerung ihr Recht auf zivilen Ungehorsam wahrnahm:

Spendenaktion und landesweite Solidarisierung

Die zur Aufbringung der Summe ins Leben gerufene Spendenaktion hat bisher 121.625,67 Euro eingebracht (Stand: 5. Februar 2014 abends).
Nur noch 10 Tage verbleiben für die Sammlung der noch fehlenden 100.000 Euro.

Spendenkonto:
DAVY PIETRO CEBRARI MARIA CHIARA
IBAN IT22L0760101000001004906838
BIC/SWIFT: BPPIITRRXXX

Und wenn sich in Italien am 22. Februar 2014 landesweit Menschen zum nationalen Tag des Widerstands gegen Hochgeschwindigkeitsprojekte treffen und ihre Solidarität mit der NO-TAV-Bewegung bekunden, können sie gemeinsam feiern, dass dieser seit über 20 Jahren bestehenden Bewegung auch mit überzogenen Schadensersatzforderungen nicht beizukommen ist.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

 

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NO TAV: Wieder über 1.000 neue Grundbesitzer im Susatal

Ein «Laboratorium der Basisdemokratie» nannte Marco Revelli von der Università degli Studi del Piemonte Orientale kürzlich das piemontesische Susatal. Er weiß, wovon er spricht, nicht nur als Politikwissenschaftler: Er gehörte zu den Protagonisten der Turiner StudentInnenbewegung und war auch an den großen Fiat-Streiks von 1980 beteiligt.

Die Ursprünge dieses «Laboratoriums» entstanden Ende der achtziger Jahre. Damals reifte bei den Behörden der Plan, durch das von einer Autobahn, Staatsstraßen und der TGV-Eisenbahnlinie bereits stark belastete enge Susatal zusätzlich eine Hochgeschwindigkeitslinie (Treno ad Alta Velocità,TAV) zwischen Turin und Lyon zu führen. Dafür ist einer der längsten Basistunnel im Alpenraum notwendig, mit dessen Bau auf die Bevölkerung eine nicht abschätzbare Schadstoffbelastung zukäme: Der Tunnel soll auch durch asbest- und uranhaltiges Gestein getrieben werden.

Hüttendörfer und Mahnwachen

Seit über zwanzig Jahren kämpft die Bevölkerung des Susatals zusammen mit lokalen PolitikerInnen und verschiedenen Umweltorganisationen gegen dieses unsinnige Großprojekt. Um die drohende Zerstörung ihres Tales zu verhindern, haben sich die TAV-GegnerInnen – flankiert von vielen WissenschaftlerInnen – ein breites Wissen aufgebaut. Sie verweisen auf die Möglichkeit, die bereits vorhandene Bahnlinie auszubauen; sie ließen Kosten-Nutzen-Analysen anfertigen und zeigten die langfristigen Folgen für Bevölkerung, Umwelt, lokale Betriebe und Tourismus auf; sie wandten sich an ihren Staatspräsidenten; und sie sammelten Unterschriften, die dem Petitionsausschuss der Europäischen Kommission in Straßburg übergeben wurden, da die EU das TAV-Projekt mitfinanziert.

Alle Entscheidungen der TAV-GegnerInnen werden in großen BürgerInnenversammlungen gefällt und im Konsens getragen. Übrigens nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Längst haben sie sich international vernetzt, arbeiten zusammen mit Initiativen aus Deutschland, Frankreich, dem Baskenland und England und waren (wir berichteten) Ausrichter des 1. Europäischen Forums gegen unnütze Großprojekte.

Die BewohnerInnen des Tals haben seit Beginn ihres Kampfes nicht nur jeden erdenklichen Weg durch die Institutionen beschritten. Sie waren auch sehr fantasievoll in ihren Aktionen: So haben sie überall im Tal Hüttendörfer und Mahnwachen errichtet. Und bereits dreimal haben sie an mutmaßlichen Einstichstellen für Erkundungsstollen – die BetreiberInnen nehmen laufend Änderungen an der geplanten Trassenführung vor – Grundstücksparzellen erworben, um sich damit bei den zu erwartenden Enteignungsverfahren unter dem Motto „compra un posto in prima fila“ in die erste Reihe zu stellen.

Korrekt enteignen

Ende Oktober fand nun die vierte NO-TAV-Landerwerbsaktion statt. Diesmal in Susa, nur einen Steinwurf entfernt von dem Areal, auf dem der neue internationale Bahnhof von Susa entstehen soll. Während landesweit immer mehr lokale – gerade für die PendlerInnen wichtige – Bahnstrecken stillgelegt werden, soll hier für 48,5 Millionen Euro nach den Plänen des japanischen Architekten Kengo Kuma ein Prachtbau für die TAV-Strecke errichtet werden, obwohl deren Trassenführung noch immer unklar ist. Erst im nächsten Jahr soll das Projekt von der italienisch-französischen Betreibergesellschaft LTF (Lyon Turin Ferroviaire) öffentlich vorgestellt werden.

Dass das umstrittene, allein für Italien über zehn Milliarden Euro teure Bauvorhaben nicht zur Disposition stehe, machte der ansonsten so sparfreudige Regierungschef Mario Monti gleich zu Beginn seiner Amtszeit klar. Und bekräftigte dies im September erneut bei einem Gipfel mit seinem französischen Amtskollegen François Hollande.

Und so fanden sich am 28. Oktober 2012 bei strömendem Regen über tausend Menschen ein, um vor einem Notar einen Eintrag ins Grundbuch vorzunehmen. Der Charme dieses Instruments aus dem «Laboratorium der Basisdemokratie» liegt in der Bildung einer einzigen EigentümerInnengemeinschaft mit möglichst vielen Mitgliedern. Denn enteignet werden kann schnell, doch jedes Mitglied muss schriftlich und vor allem korrekt darüber informiert werden. «Und wenn dabei auch nur ein Name verkehrt geschrieben wurde, wenn auch nur eine einzige Ziffer der Steuernummer falsch ist – dann ist die gesamte Enteignung ungültig», erläutert Alberto Perino, Sprecher der NO-TAV-Bewegung.

1056 Personen haben an jenem Tag persönlich oder per Procura die notarielle Urkunde unterzeichnet, zieht Perino am Abend dann das Fazit. Und fügt hinzu: «Ein weiteres Sandkorn, das ins Getriebe des TAV geworfen worden ist.»

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

 

 

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Partisanenpfade im Piemont – jetzt erschienen

Il libro è aperto – das Buch ist jetzt verfügbar – könnte man mit viel Phantasie und bei großzügiger Auslegung der italienischen Sprache sagen, hatte aber eine auch noch ganz andere Bedeutung:

Hochebene Conca del Prà Seit 1950 steht auf der idyllischen Hochebene Conca del Prà das Rifugio Willy Jervis in Erinnerung an einen der bekanntesten Protagonisten des Widerstandes im Val Pellice. Willy Jervis wurde am 5. August 1944 auf der zentralen Piazza von Villar Pellice erschossen, nachdem er den Deutschen in die Hände
gefallen war. Die ausgedehnte Hochfläche, über Villanova zu Fuß in ca. 3 h zu erreichen, ist heute zu Recht ein beliebtes Ausflugsziel, eignete sich aber auch hervorragend für die ab Juni 1944 vorgenommenen alliierten Versorgungsabwürfe. Wenn Radio London mit den Codewörtern Il libro è aperto einen Abwurf avisierte, eilten die Menschen aus Bobbio Pellice zur Conca hinauf, um Waffen, Munition und Lebensmittel einzusammeln.

Ein Interview zur Veröffentlichung
Wir haben uns kurz vor Erscheinen des Buches mit Hans-Peter Koch von SeeMoZ  (SeeMoZ – Lesenswertes aus Kultur und Politik für den Bodenseeraum und das befreundete Ausland) unterhalten – über Geschichten und Geschichte im Piemont, über grandiose Wanderwege und über den Widerstandsgeist der Piemonteser, der bis heute anhält.

Warum soll unsereins noch heute auf Partisanen-pfaden durchs Piemont stapfen?

Als wandernde Piemont-Liebhaber fällt uns die Antwort leicht: Schließlich liegt diese Region nicht nur – wie der Name ‚al piè dei Monti’sagt – am Fuße der Berge, sondern mittendrin. Und verfügt darüber hinaus über ein wunderbares Wanderwege-Netz, von dessen Attraktivität sich so mancher mittlerweile zertifizierte Premiumweg nördlich der Alpen eine Scheibe abschneiden kann.

Von der Nivolet-Passstraße Blick auf die Seen Angnel und Serrù Unsere Touren zwischen Gran Paradiso im Norden und Monviso im Süden folgen ausgewiesenen Wanderwegen durch National- oder Naturparkgebiete, führen über königliche Jagdsteige, alte Saumwege und stille Gebirgspfade. Und oberste Priorität hatte bei der Auswahl der Wege neben der historischen Bedeutung stets die Attraktivität des Weges und die der Landschaft.

Die schöne Dora Riparia an der Piazza CLN (Comitato di Liberazione Nazionale) – Fertigstellung im Jahr XVII der faschistischen Zeitrechnung Zudem: Unser Buch richtet sich nicht nur an passionierte Wanderer. Mit den Stadtspaziergängen durch Turin und Torre Pellice – beide auf den Spuren der Resistenza, dem 20-monatigen Widerstand gegen den Faschismus – kommt auch auf seine Kosten, wer sich aus Bergen rein gar nichts macht. Partisanenpfade im Piemont ist ein Reisebuch, ein Wanderbuch und ein Geschichtenbuch.

Dennoch: Was und wen kümmert heutzutage noch die alten Geschichten des Widerstands in Italien? Ist das nicht längst vergessen?

Wir haben ein Buch geschrieben, das wir selbst vor über 20 Jahren bei unseren ersten Wanderungen in den piemontesischen Alpen gern dabei gehabt hätten. Dazu muss man wissen, dass im Piemont – wie auch jenseits des italienisch-französischen Grenzkamms – Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit nicht in den Boden eingelassen und auch deutlich größer sind als bei uns. Sie sind unübersehbar und bedienen sich einer ganz unverblümten Sprache. Und nachdem wir Anfang der 1990er-Jahre auf einer wildromantischen Hochebene auf über 2.000 Metern Höhe über ein Mahnmal für Opfer dieses Widerstands ‚gestolpert’ sind, hat uns das Thema nicht mehr losgelassen.

Berglauf Memorial Partigiani Stellina Valsusa
Im Susatal wird jedes Jahr am Wochenende um den 26. August herum der Battaglia delle Grange Sevine gedacht: Am Sonntag startet in Susa am römischen Augustusbogen der traditionelle Berglauf Memorial Partigiani Stellina Valsusa, der meist recht treffend „Corsa di Bolaffi“ genannt wird. Schließlich liegt der Zieleinlauf auf der Alpe Costa Rossa direkt am Denkmal für Giulio Bolaffi, des legendären Comandante Aldo Laghi und seiner Divisione Stellina.

Wie aktuell dieses Thema einmal werden würde, haben wir allerdings bei Abgabe des Manuskriptes selbst noch nicht erahnt: Zwar hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag im Februar diesen Jahres bestätigt, dass das Prinzip der Staatsimmunität Deutschland vor Entschädigungsforderungen wegen in Italien begangener nationalsozialistischer Kriegsverbrechen schützt. Doch das Urteil hat auch klargestellt, dass Deutschland zumindest eine moralische Verantwortung dafür übernehmen müsse und die Notwendigkeit einer ‚gemeinsamen Erinnerungskultur’ angemahnt. Da regt sich was, durchaus nicht nur in Italien, wo gerade Anfang Mai in Florenz ein Kongress zu diesem Thema stattfand. Auch in Deutschland setzen sich langsam immer mehr Institutionen mit der italienischen Resistenza auseinander.

Piemont ist wunderschön. Und hat eine beeindruckende Geschichte. Ihr habt schon angedeutet, dass in Eurem Buch auch die Geschichte des Widerstandes gegen die Faschisten beleuchtet wird…

Von ganz vielen Seiten. Angefangen bei der 40-seitigen Einführung in dieses nur wenig bekannte Thema. Schließlich wuchs die italienische Widerstandsbewegung vom September 1943 bis Ende April 1945 mit wohl 250.000 Mitgliedern zur zahlenstärksten Widerstandsbewegung Westeuropas an. Diese 20 Monate, in denen sich Menschen unterschiedlichster politischer Couleur – Liberale, Sozialisten und Kommunisten waren ebenso beteiligt wie Monarchisten – zusammen schlossen, um gegen deutsche Besatzung und italienischen Faschismus und für einen radikalen Wandel in ihrem Land zu kämpfen, haben das Piemont schließlich nachhaltig geprägt.

Redaktionsbüro von Il Pioniere - Partisanenzeitung im Untergrund
Il Pioniere – Partisanenzeitung im Untergrund. Aus Sicherheits-gründen residierte das Redaktionsbüro in einer der entlegensten Ecken des Angrognatals, in der kargen Barma de l’Ours auf über 1.200 Metern Höhe. Die erste hektographierte Ausgabe erschien am 30. Juni 1944 in einer Auflage von 800 Kopien.

Wir haben aber kein Geschichtsbuch geschrieben, sondern anhand ganz unterschiedlicher Artikel versucht, diese Geschichte erlebbar zu machen. Wir erzählen von Mussolinis Aufstieg – weil die Widerstandsbewegung nur verständlich wird vor dem Hintergrund, dass beim Kriegseintritt Italiens an der Seite Hitler-Deutschlands 1940 ein damals 18-jähriger italienischer Wehrpflichtiger nicht einen einzigen Tag in einem demokratischen Staat gelebt hatte. Wir erzählen auch von dem 1933 in Turin gegründeten Verlag ‚Giulio Einaudi Editore’, mit dem Leone Ginzburg, Cesare Pavese, Giulio Einaudi, Carlo Levi, Vittorio Foa und viele andere versuchten, die faschistische Zensur zu unterlaufen und Bücher zu verlegen, die zu kritischem Denken anregen sollten – und dafür auch langjährige Haftstrafen und Verbannung in Kauf nahmen.

Wir erzählen auch von dem Phänomen, das die italienische Historikerin Anna Bravo als eine der „größten Verkleidungsaktionen der italienischen Geschichte“ bezeichnet hat: Dass sich circa die Hälfte der Soldaten des italienischen Heeres, die sich am Tag der Waffenstillstandserklärung im deutschen Machtbereich befunden hat, durch Flucht der Gefangennahme und dem Transport in die deutschen Zwangsarbeitslager entziehen konnte.

Blick auf die Barre des Ecrins am Passo dell'Orso
Blick auf die Barre des Ecrins am Passo dell’Orso

Und weil Partisanenpfade im Piemont ein Wanderlesebuch ist, haben wir in Ergänzung zu den Tourbeschreibungen auch ganz viele kurze Hintergrundgeschichten geschrieben. In diesen ‚Themensplittern’ kann – wer mag – nachlesen, warum jedes kleine Dorf in Italien seine ‚Via Roma’ hat, was genau unter der italienischen ‚Judenkartei’ zu verstehen ist, wie Piero Gobettis Witwe Ada ihre Winterüberschreitung des Passo dell’Orso in ihrem Tagebuch beschrieb. Hier findet sich auch das Gedicht ‚Kamerad Kesselring’, geschrieben in Erinnerung an den Kriegsverbrecher, der kaltschnäuzig genug für die Bemerkung war, die Italiener täten gut daran, ihm für sein Verhalten in der Zeit, in der er den Oberbefehl auf dem italienischen Kriegsschauplatz innehatte, ein Denkmal zu errichten.

Unter Berlusconi wurde der italienische Faschismus wieder hoffähig…

2011 bei der jährlichen Gedenkfeier am Colle del Lys zu Ehren  2024 gefallenen Partisanen aus den Tälern Lanzo, Susa, Sangone und Chisone
2011 bei der jährlichen Gedenkfeier am Colle del Lys zu Ehren  2024 gefallenen Partisanen aus den Tälern Lanzo, Susa, Sangone und Chisone

Wir wollen keinen Mythos bedienen. Dass es einen ganz offenkun-digen Widerspruch zwischen Wachhalten der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand einerseits und dem mittlerweile durch langjährigen Berlusconismus veränderten Geschichtsver-ständnis vieler Italiener andererseits gibt, ist uns bewusst. Auch, dass der Abgang von Silvio Berlusconi nichts daran ändert, dass er Mussolini und den italienischen Faschismus in Italien wieder hoffähig gemacht hat. Auch wenn das dort, wo wir unterwegs waren und immer wieder sind, nur ganz selten in Erscheinung tritt.

Widerstand im Piemont hat Tradition bis auf den heutigen Tag. Findet sich das auch in Eurem Buch wieder?

Ponte dell'Arnodera - nach der am 29.12.1943 erfolgreichen Sprengung wieder instandgesetzt
Ponte dell’Arnodera – nach der am 29.12.1943 erfolgreichen Sprengung wieder instandgesetzt

Wir haben jeden Talbereich mit einem Motto überschrieben, und das Motto für das Susatal lautet: ‚Der Kampf um die Eisenbahn’. In der Zeit der Resistenza stand dies Motto für die Schlacht um die für die Deutschen so bedeutsame Eisenbahnlinie Turin – Fréjus – Modane, über die der Nachschub in das besetzte Südostfrankreich verlief. Heute steht dieses Motto für den Widerstand gegen den ‚Treno ad alta velocità’, beziehungsweise die Bauvorhaben, die hier geplant sind, um die Hochgeschwindigkeitslinie zwischen Turin und Lyon zu realisieren.

Wir verfolgen den Widerstand im Susatal seit Mitte der 1990er-Jahre (und haben auch in SeeMoZ mehrmals darüber berichtet). Damals lasen wir vom ‚Transalpedes’-Projekt, mit dem Umweltaktivisten um Dominik Siegrist und Jürg Frischknecht auf einer Wanderung am Alpenhauptkamm entlang auf die drohende Umweltzerstörung im Alpenraum aufmerksam machen wollten. Sie trafen in verschiedensten Regionen Menschen, die versuchten, sich gegen Fehlentwicklungen zur Wehr zu setzen. Einer von ihnen war Claudio Giorno, damals wie heute aktiv im Widerstand gegen die Betonlobby.

15.000 Teilnehmer auf einer spontan angesetzten Demonstration in Susa nach Räumung der Maddalena am 27. Juni 2011
15.000 Teilnehmer auf einer spontan angesetzten Demonstration in Susa nach Räumung der Maddalena am 27. Juni 2011

Das innerhalb der Widerstandsbewegung gegen das faschistische Mussolini-Regime und die deutsche Besatzung entstandene Motto „Ora e sempre Resistenza“ haben die Projektgegner längst zu ihrem gemacht. Man könne den Protest gegen das TAV-Projekt nicht von der Geschichte der Resistenza trennen, sagt denn auch Claudio Giorno. Piero Calamandrei, Professor für Zivilprozessrecht, hat 1955 in seiner berühmt gewordenen Vorlesung darauf hingewiesen, dass der Kampf um die italienische Verfassung in den Berggebieten ausgetragen wurde. Kein Wunder also, dass gerade dort dringender Nachbesserungsbedarf an eben dieser Verfassung aufgezeigt wird: Damit der Wille der ganz überwiegenden Mehrheit einer Region nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden kann, damit auch beispielsweise das international geächtete CS-Gas nicht im Landesinneren verwendet werden darf und um unter anderem auszuschließen, dass Militär gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird. Darum haben wir in unser Buch auch den Artikel „Ora e sempre Resistenza: NO TAV!“ aufgenommen.

Ihr seid Reiseschriftsteller. Über welche anderen Regionen kann man Reisetipps von Euch erfahren?

Einspruch.Dass wir Sachbücher schreiben, macht uns nicht zu Schriftstellern. Auf unserer Internetpräsenz westalpen.eu sowie hier im Blog veröffentlichen wir regelmäßig Hintergrundinfor-mationen und berichten über kuriose und nicht alltägliche Geschichten aus unserem Zielgebiet, den italienisch-französischen Westalpenbogen zwischen Genfer See und Mittelmeer.

Und dort schreiben wir manchmal auch über Schriftsteller, etwa den französischen Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio. Der hat in seinem Buch ‚Fliehender Stern‘ die Geschichte einer Gruppe von Juden unterschiedlichster Nationalität erzählt, die zwischen März und September 1943 im französischen Saint-Martin-de-Vésubie Zuflucht vor den Deutschen gefunden hatte. Als die von Süden vorrückten, machte sich die Gruppe auf den beschwerlichen Weg über die Berge nach Italien. Ihre Hoffnung – mittlerweile war Mussolini abgesetzt und am 8. September der italienische Waffenstillstand erklärt – so in die Freiheit zu gelangen, trog: Die Deutschen marschierten am 12. September auch in diese Region ein und besetzten die italienischen Stellungen. Die Flüchtlinge wurden von den Deutschen auf Basis der von Mussolini 1938 'Memoriale della Deprtazione' in Borgo San Dalmazzo erlassenen Rassengesetze verhaftet, in Borgo San Dalmazzo (Provinz Cuneo) in Güterwaggons gepfercht und nach Auschwitz transportiert, wo 311 Menschen dieser Fluchtgruppe ermordet wurden. Ein Ereignis, auf das heute am Bahnhof von Borgo San Dalmazzo das ‚Memoriale della Deportazione‘ hinweist.

Derartige Hinweise auf Geschehnisse abseits des reinen Wanderweges sind auch in unsere bisher erschienenen sieben Wanderführer eingeflossen.

Die Fragen stellte Hans-Peter Koch

Partisanenpfade im Piemont. Orte und Wege des Widerstands zwischen Gran Paradiso und Monviso. Ein Wanderlesebuch von Sabine Bade und Wolfram Mikuteit. Das Buch: Sabine Bade | Wolfram Mikuteit: Partisanenpfade im Piemont. Orte und Wege des Widerstands zwischen Gran Paradiso und Monviso. Ein Wanderlesebuch. Verlag Querwege, Konstanz 2012, 272 Seiten, mit detaillierter Karte zu jeder Tour, mit GPS-Tracks und Waypoints zum Download, mit vielen Farb- und historischen s/w- Aufnahmen, ISBN 978-3-941585-05-8, EUR 19,90. Das gesamte Inhaltsverzeichnis und viele andere Informationen zum Buch auf Facebook.

 

 

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